immunologist doing skin prick allergy test on a woman’s arm. symbolbild allergische erkrankungen
iStockPhoto/microgen
Gesundheit

«Über die letzten 50 Jahre hat die Prävalenz von allergischen Erkrankungen drastisch zugenommen»

16.05.2024
von Linda Carstensen

Mehr Hygiene ist nicht immer gut. Offenbar hat die Anzahl an Allergiker:innen unter anderem aufgrund zunehmender Hygienestandards weltweit zugenommen. Prof. Alexander Eggel, Forschungsgruppenleiter an der Universitätsklinik für Rheumatologie und Immunologie am Inselspital Bern, erklärt, wie Allergien entstehen und wie sie bekämpft werden können.

Portrait Prof. Dr. Alexander Eggel

Prof. Dr. Alexander Eggel
Inselspital Bern

Herr Eggel, sind Sie auf etwas allergisch?

Ja, ich gehöre tatsächlich zu den 30 Prozent der globalen Bevölkerung, welche an einer allergischen Erkrankung leiden. Meine Gräser- und Pollenallergie macht sich jeden Frühling über mehrere Wochen hinweg sehr stark bemerkbar und motiviert mich zusätzlich, meine beruflichen Anstrengungen in der Allergieforschung zu intensivieren. 

Wie kann man herausfinden, ob man gegen etwas allergisch ist – ohne im Notfall zu landen?

Die Diagnose einer Allergie kann anhand der Krankengeschichte der Patient:innen und mithilfe immunologischer Testverfahren gestellt werden. Während milde Heuschnupfen-Symptome durchaus vom Hausarzt erfasst und behandelt werden können, sind Patient:innen mit komplexeren allergischen Erkrankungen oft auf eine Untersuchung bei spezialisierten Allergolog:innen angewiesen.

Wie entstehen Allergien? 

Vereinfacht gesagt ist eine Allergie eine überschiessende Immunreaktion auf Umweltstoffe, die Allergene, welche normalerweise harmlos für den Körper wären. Diese Abwehrreaktion wird bei einigen von uns durch genetische Faktoren und bestimmte Umwelteinflüsse begünstigt. Einerseits hat man festgestellt, dass die zunehmenden Hygienestandards unserer Gesellschaft dazu führen, dass unserem Immunsystem das entsprechende Infektionstraining fehlt und es dadurch anfälliger für die Entwicklung von Allergien wird. Andererseits sind wir vermehrt schädlichen Substanzen ausgesetzt, welche die physiologischen Barrieren unserer Haut, der Lunge oder des Darms durchlässiger für Allergene machen.

Wie unterscheidet sich eine Allergie von einer Intoleranz?

Bei einer Allergie handelt es sich um eine gezielte Abwehrreaktion unseres Körpers. Im Gegensatz dazu ist das Immunsystem bei einer Intoleranz nicht beteiligt. Diese manifestiert sich, wenn eine aufgenommene Substanz wie zum Beispiel ein Nahrungsmittel nicht ausreichend verdaut werden kann. Dies tritt auf, wenn bestimmte Enzyme aufgrund genetischer Faktoren fehlen oder die Funktion des Darms eingeschränkt ist.

Was kann gegen Allergien unternommen werden?

Je nach Art der Allergie und deren Schweregrade gibt es verschiedene Therapieansätze. Einfache Lösungen wie das Vermeiden bestimmter Allergene können für Patient:innen jedoch schwer umzusetzen sein. Medikamente wie Antihistaminika helfen zwar, die Symptome zu lindern, bekämpfen aber nicht die Ursache der Allergie. Um langfristige Besserung zu erzielen, muss dem Immunsystem beigebracht werden, das entsprechende Allergen wieder zu tolerieren. Dies kann bisher nur durch eine sogenannte allergenspezifische Immuntherapie, auch Desensibilisierung genannt, erreicht werden. Bei schweren Allergien werden vermehrt auch Biologika zur Behandlung eingesetzt. Das sind Medikamente, die spezifische Faktoren blockieren, die bei der Auslösung der Allergie eine zentrale Rolle spielen. Basierend auf der jeweiligen Diagnose suchen Allergolog:innen die passendste Lösung für ihren Patient:innen.

Wie genau funktioniert eine Immuntherapie?

Bei der allergenspezifischen Immuntherapie wird den Patient:innen unter professioneller Aufsicht das Allergen in definierten Abständen repetitiv verabreicht, mit dem Ziel, das Immunsystem wieder tolerant gegenüber dem Allergen zu machen. Die Therapie beginnt mit sehr geringen Mengen des Allergens, die mit jeder folgenden Verabreichung erhöht werden, bis eine Erhaltungsdosis erreicht ist. Offizielle Richtlinien empfehlen, dass diese Allergendosis dann über drei bis fünf Jahre monatlich appliziert werden muss. 

Mit einem Drittel der globalen Bevölkerung, die von allergischen Erkrankungen betroffen ist, haben wir mittlerweile fast pandemische Zahlen erreicht.

Wie wirksam ist sie?

Grundsätzlich ist die nachhaltige Wirksamkeit der allergenspezifischen Immuntherapie von Patient zu Patient sehr unterschiedlich. Leider fehlen bisher Testverfahren, welche den Therapieerfolg vorhersagen können. Bei einigen Personen kommt es zur anhaltenden Linderung von Allergiesymptomen, während andere nach dem Absetzen der Therapie einen Rückfall erleiden. Die empfohlene Dauer der Therapie und der damit verbundene Aufwand ist eine grosse Herausforderung für Patient:innen. In unserer täglichen Arbeit beschäftigen wir uns deshalb damit, optimalere Lösungen mit effizienteren Therapieansätzen zu erforschen.

Wie hat sich die Anzahl von Allergiker:innen entwickelt?

Über die letzten 50 Jahre hat die Prävalenz von allergischen Erkrankungen drastisch zugenommen. Mit einem Drittel der globalen Bevölkerung, die von allergischen Erkrankungen betroffen ist, haben wir mittlerweile fast pandemische Zahlen erreicht. Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass neben der zunehmenden Hygiene auch klimatische Veränderungen dazu beitragen, dass sich die Blütezeiten von Gräsern und Bäumen verlängern und somit die Allergenbelastung in der Luft steigt.  

Müsste unsere Bevölkerung mehr sensibilisiert werden für den Umgang mit Allergiker:innen?

Generell sollten Allergien von der Bevölkerung ernst genommen werden. Seit 2018 sind Lebensmittelhersteller in der Schweiz gesetzlich dazu verpflichtet, allergene Inhaltsstoffe zu kennzeichnen. Dies ist wichtig, da Allergiesymptome einen äusserst relevanten Einfluss auf die Lebensqualität einer Person haben können. Ausserdem wird oft vergessen, dass schwere allergische Reaktionen für Betroffene lebensbedrohlich sein können. Wenn man also das nächste Mal im Flugzeug beabsichtigt, eine Packung Erdnüsse zu öffnen, sollte man sich dessen bewusst sein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Vorheriger Artikel Die verborgene Welt seltener Krankheiten in der Mitte der Gesellschaft
Nächster Artikel «Weder eine DIS noch das, was sie auslöst, ist selten»