«Weder eine DIS noch das, was sie auslöst, ist selten»
Die Bonnies sind Künstlerinnen und Content Creators, die öffentlich über ihr Leben mit dissoziativer Identitätsstörung (DIS) sprechen. Die DIS wurde früher als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet und ist eine Folge von frühen, wiederholten und lang anhaltenden Traumata. Dabei übernehmen verschiedene Personen abwechselnd voneinander die Kontrolle über den Körper. Im Interview bezieht sich die Mehrzahl auf alle Personen, die sich den Körper der Bonnies teilen – auf die Bonnies als Gesamtes.
Bonnies, könnt ihr erzählen, wie die Reise mit der Diagnose dissoziative Identitätsstörung begann?
Mit 16 Jahren suchten wir erstmals psychotherapeutische Unterstützung. Damals hatten wir unter anderem mit Selbstverletzungen und Depressionen zu kämpfen. Wir wussten, dass etwas nicht stimmte, doch die Ursache blieb lange Zeit unklar. Zumindest für die Personen von uns, die zu diesem Zeitpunkt für den Alltag zuständig waren. Erst zwei Jahre später wurde die Verdachtsdiagnose DIS gestellt – für eine DIS-Diagnose ist das wahnsinnig schnell – später bestätigte eine Traumaklinik die Diagnose. Im weiteren Verlauf begegneten wir zahlreichen weiteren Fachpersonen, die uns ermöglichten, die richtige Behandlung zu finden.
Wie hat sich die Diagnose auf euer Leben ausgewirkt?
Die Tatsache, viele zu sein, war leichter anzunehmen als die, traumatisiert zu sein. Diejenigen von uns, die schon immer wussten, dass wir viele sind, waren verwirrt, dass es eine Diagnose für unsere Lebensrealität gab. Jene Persönlichkeiten, die zum Zeitpunkt der Diagnose im Alltag agierten, wussten bis dato nicht einmal von einem Trauma in der Vergangenheit. Für sie war die Diagnose erst nicht zu glauben und zugleich eine Erklärung für vieles wie unter anderem Zeitlücken und verschiedene Handschriften im Tagebuch.
Spürt ihr, wenn die Identitäten wechseln?
Manchmal kündigt sich ein Wechsel an, indem uns schwindlig wird, wir wegdriften oder spüren, dass uns jemand von innen wegdrängen möchte. Doch meistens sind Wechsel für uns nicht spürbar oder vorhersehbar. Dann kommt es zum Beispiel vor, dass man zu Hause Kaffee trinkt, einmal blinzelt und sich auf einmal auf der Arbeit befindet. Dazwischen können Minuten, Stunden oder Jahre vergangen sein. Für manche von uns ist die Zeit dazwischen nur eine grosse Lücke. Andere halten sich in der Zeit, in der sie nicht vorne, sprich «am Steuer» sind, im Inneren auf. Dort existiert eine eigene Welt, in der parallel zum äusseren Geschehen gelebt wird. Dort können wir uns begegnen, so wie Menschen in der Aussenwelt es auch können. Wir können riechen, schmecken, spüren, sprechen und uns sehen. Doch harmonisch ist es dort nicht.
Wisst ihr, wann oder warum ein Identitätswechsel geschieht?
Wechsel passieren als Reaktion auf einen Trigger, den wir oft nicht einordnen können. Ein Trigger kann alles sein – ein Geruch, eine Redewendung, eine Farbe, eine Situation, ein Mensch oder auch eine Person von innen mit viel Entscheidungsmacht. Manchmal wirft eine Person nur ein Wort oder einen Satz ein oder übernimmt die Kontrolle nur über eine Hand. Ab wann ist es also ein Wechsel? Egal, wer von uns vorne ist – niemand ist wirklich allein.
Beim Viele-Sein geht es aber nicht um die Wechsel, sondern die Tatsache, dass zahlreiche Personen als Eins agieren müssen. Ich bin entweder in der Aussenwelt und kann unser Handeln als Gesamtes steuern, oder ich bin in der Innenwelt und agiere dort ebenso körperlich und real. Unser Gegenüber spricht nie mit nur einer Person. Im Hintergrund gibt es immer Persönlichkeiten, die mithören, beobachten und von innen Einfluss auf unser Handeln haben.
Wie könnten Verständnis und Sensibilität in Bezug auf Betroffene mit DIS gefördert werden?
Wir können dafür sorgen, dass die Menschen mehr gehört werden, die sich seit Jahrzehnten für die Sichtbarkeit Betroffener einsetzen sowie dafür, dass Fachleute über ausreichend Wissen verfügen, um angemessen behandeln oder weitervermitteln zu können. Niemand sollte in einer verletzlichen Notsituation das eigene Krankheitsbild erklären müssen, um angemessene Unterstützung zu bekommen. Gerade weil weder eine DIS noch das, was sie auslöst, selten ist. Gewalt passiert überall und sie ist näher, als die meisten vermuten.
Die Tatsache, viele zu sein, war leichter anzunehmen als die, traumatisiert zu sein.
Dass es immer Filme geben wird, in denen DIS-Betroffene den Bösewicht spielen, können wir nicht ändern. Doch wir können die andere Seite stärken und ausbauen, indem wir leicht zugängliche Informationen schaffen – wie wir es beispielsweise auf Social Media tun. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen achtsam sein möchten, aber nicht wissen, wie. Durch Mangel an Informationen entstehen Berührungsängste. Jeder Mensch kann über die Existenz der DIS sprechen. Denn allein durch das Bewusstsein für diese Thematik können Menschen verstehen, annehmen und dadurch bewegen.
Welche Missverständnisse und Vorurteile habt ihr erlebt? Könnt ihr diese richtigstellen?
DIS ist eine komplexe Traumafolgestörung. Aussagen wie «Jeder Mensch hat verschiedene Anteile» oder «Ich habe auch ein inneres Kind» begegnen uns immer wieder. Bei einer DIS existieren jedoch mehrere Persönlichkeiten nebeneinander, die genauso vollständig und vielschichtig sein können wie ein einzelner Mensch. Diese können sich ebenfalls in ihren Interessen, Fähigkeiten, Alter, Geschlecht, Erinnerung, Aufgaben und alledem unterscheiden, was uns Menschen eben einzigartig macht.
Ebenfalls oft unterschätzt wird die Häufigkeit der DIS. Sie ist alles andere als selten. Sie wird allerdings bei vielen Betroffenen spät oder gar nicht erkannt. Von einigen Vorstellungen weicht die Realität entschieden ab: Dass ein Mensch viele ist, ist für Aussenstehende nicht zwangsweise erkennbar. Wer eine DIS entwickelt hat, hat sehr früh und sehr lange Traumata erlebt und sehr wahrscheinlich gelernt, dass die Gefahr am kleinsten ist, wenn man sich anpasst.
Welche Techniken verwendet ihr, um mit Herausforderungen der DIS umzugehen?
Da nicht alle von uns im Inneren auch miteinander kommunizieren können, versuchen wir so viel wie möglich aufzuschreiben – gerade wenn es um wichtige Infos, Entscheidungen oder Termine geht. Für die von uns, für die es möglich ist, war es oft heilsam, Worte für das Geschehene zu finden oder für das, was es mit uns macht. Worte sind Macht. Deshalb ist unser neues Buch «Eine Bonnie kommt niemals allein» ein Meilenstein auf unserem Weg. Wir sprechen, obwohl wir das nie durften. Wir werden gesehen. Wir haben uns ein kleines bisschen Selbstbestimmung zurückgeholt.
Eine grosse Stütze sind auch vertraute Menschen, die uns unterstützen. Nicht nur beim Aushalten von Traumasymptomen sind sie wertvoll, sondern auch beim Rekonstruieren des Tages, bei der Reorientierung einzelner Personen, beim Kennenlernen und Einordnen noch unbekannter Personen.
Die Bonnies auf Instagram: @diebonnies
Es gibt einen Grund wieso der Name von „multiple Persönlichkeitsstörung“ zu „dissoziative Identitätsstörung“ geändert wurde. Die Einordnung durch einen Experten wäre sinnvoll gewesen.
https://mentalwohl.com/dissoziative-identitatsstorung-was-ist-das/
Bereits 1994 wurde der Name in “Dissoziative Identitätsstörung” geändert, ‚um besser widerzuspiegeln, was Experten inzwischen verstanden haben: Es handelt sich nicht um verschiedene Persönlichkeiten, sondern um abgespaltene Identitäten vom Kern-Selbst. Deine Persönlichkeit ist ein Teil deiner Identität, aber sie ist nicht dasselbe.‘