Interview von SMA

«Ich versuche, zufrieden zu sein, mich aber nie zufrieden zu geben»

Im Dezember 2010 wurde Samuel Koch bei «Wetten dass..?» als Kunstturner auf die Probe gestellt. Bei einem Salto über ein fahrendes Auto kam es zu einem Sturz, der alles veränderte. «Fokus» sprach mit Koch über den Unfall, seine Karriere danach und was ein erfülltes Leben für ihn bedeutet.

Im Dezember 2010 wurde Samuel Koch bei «Wetten dass..?» als Kunstturner auf die Probe gestellt. Bei einem Salto über ein fahrendes Auto kam es zu einem Sturz, der alles veränderte. «Fokus» sprach mit Koch über den Unfall, seine Karriere danach und was ein erfülltes Leben für ihn bedeutet.

Herr Samuel Koch, wie würden Sie sich selbst als Person beschreiben?

Oh, gleich eine schwierige Frage zum Anfang. Wenn ich mich vorerst auf oberflächliche Erkennungszeichen beschränken müsste, dann verdiene ich als Autor, Schauspieler und Redner mein Brot. In erster Linie versuche ich allerdings, ein verantwortungsvoller Sohn, Bruder und Freund sowie ein guter Ehemann zu sein.

2010 nahm Ihr Schicksal eine Wende. Der Unfall bei «Wetten dass..?» markiert den Augenblick, in dem Ihr «zweites» Leben begann. Was fühlten Sie in dem Moment, als Sie dies realisierten?

Drei endlose Monate lang hatte ich auf dem Rücken gelegen, mit dem Kopf eingespannt in einer Schraubstockkonstruktion. Kurz nachdem ekelhafte, demütigende lebenserhaltende Dinge mit mir gemacht wurden, «durfte» ich ein paar Minuten lang im Rollstuhl sitzen. In diesem Moment fing mir an zu dämmern, dass ich diesmal nicht glimpflich davongekommen war. Ich würde nicht wie nach meinen vorherigen Unfällen auf meinen eigenen Beinen gesund und munter die Klinik verlassen. «Du wirst nie wieder laufen können, nie wieder selbstständig leben», hiess es. Trotz all der lieben Menschen, die mich umgaben, fühlte ich mich einsam und unverstanden.

In einem Interview sagten Sie, dass sie vor dem Unfall auf Ihr Bauchgefühl hätten hören sollen. Warum liessen Sie sich dennoch auf den Stunt ein?

Über Mundpropaganda wurde mir vermittelt, dass meine Chancen, Wettkönig zu werden, sehr gut standen. Das weckte in mir die Hoffnung, dass ich mich bald nicht mehr mit vielen unterschiedlichen Jobs beschäftigen müsste. Im Falle eines Sieges hätte ich mit dem Gewinn den Grossteil meines Studiums finanzieren können. Ausserdem war da die Vorfreude auf die Aftershow-Party mit Cameron Diaz. Dann gab es für mich noch einen Grund, den Auftritt durchzuziehen: Ich hatte die Wunschvorstellung, die Gelegenheit zu nutzen, um noch einige Sätze zu sagen, die man nicht unbedingt in so einer Unterhaltungssendung erwarten würde, nämlich darüber, was mir sonst noch wichtig ist im Leben.

Bei der Rückkehr in den Alltag begegnet man plötzlich unerwarteten Hürden. Wie war diese Erfahrung für Sie?

Wenn ich früher irgendwo in der Stadt Rollstuhlfahrende gesehen habe, dachte ich: «Ach, die Armen, blöd gelaufen», und ging dann dekadent meines Weges. Nie im Leben hatte ich mir vor meinem Unfall vorstellen können, was das überhaupt bedeutet und welche extremen Schwierigkeiten es mit sich bringt, im Rollstuhl zu sitzen. Oder präziser: Tetraplegiker zu sein. Um nicht am Verlust meiner Selbstständigkeit zu verzweifeln, habe ich versucht, zufrieden zu sein, aber mich nie zufrieden zu geben.

Kommen wir auf Ihre Karriere zu sprechen. Welche Ziele strebten Sie an, bevor es zu Ihrem Unfall kam?

Mein Kindheitstraum war es, Meeresbiologe zu werden, in diesem Bereich gibt es einfach viel zu viel zu entdecken. Mathematik, aber auch Theologie oder Philosophie, nicht zu vergessen Literaturwissenschaft, Physik oder Jura, haben mich schon immer interessiert. Heute kann ich mich, wie früher, für viele Gebiete begeistern – fast zu viele. Zum Zeitpunkt des Unfalls hatte ich gerade die Ausbildung in einem der vielseitigsten Berufe angefangen, die ich mir vorstellen konnte – der Schauspielerei.

In der Schauspielerei fühlte ich mich endlich angekommen und startklar. Samuel Koch

Was faszinierte Sie schon damals an diesem Beruf?

Alles, was ich bisher kennengelernt hatte, begeisterte mich für diesen Weg. Vielleicht war die Schauspielerei nichts fürs Leben, aber für den Augenblick schien sie mir die denkbar beste Lebensschule, die individuellste Ausbildung, für die ich grosse Leidenschaft empfand. Ich hatte Spass daran, kreativ zu sein, mit meinem Körper zu arbeiten und in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Dies kam mir entgegen, da ich mich ja nie entscheiden konnte. Und mir gefiel es, mal allein, mal mit meinen Kommilitonen zu improvisieren; auf sie einzugehen, auf einer Bühne zu stehen, ganz in einer Rolle aufzugehen und im besten Fall Menschen zum Lachen und Nachdenken zu bringen. Ich fühlte mich endlich angekommen und startklar.

Nach einem Jahr Behandlung in der Reha nahmen Sie Ihr Schauspielstudium wieder auf, das Sie 2014 erfolgreich abschlossen. Wie kam es dazu? Hatten Sie Zweifel?

Die Hochschule hatte sich auf das Experiment eingelassen, mich weiter auszubilden. Doch es gab nicht nur positive Stimmen. Ich selbst war mein grösster Zweifler. Berechtigte Bedenken der Lehrenden deckten sich zum grossen Teil mit meinen eigenen. Aus den Lehrerkonferenzen drangen Sätze in den Hochschulbuschfunk wie: «Wir arbeiten nur professionell, also nicht mit Behinderten.» Für meinen Mentor, Professor Jan Konieczny, schien die offensichtliche Reduktion, die ich durch meinen Unfall erlitten hatte, zu keinem Zeitpunkt ein Problem für meinen weiteren Lebensweg auf der Bühne zu sein. Deshalb wollte ich es versuchen.

Wie erleben Sie es, ein Schauspieler mit Tetraplegie zu sein?

Natürlich gibt es logistische Besonderheiten im Vergleich zu voll bewegungsfähigen Kolleg:innen oder Schauspieler:innen. Aber das Schöne ist, dass Schauspieler:innen keine Berührungsängste haben. Sie sind experimentierfreudig, neugierig und abenteuerlustig. Als ich mein Schauspielstudium fortgesetzt hatte, dachte ich: «Es gibt nichts Dämlicheres, als in meinem Zustand so etwas zu machen.» Und jetzt denke ich, es gab eigentlich nichts Besseres. Wo könnte man sonst mit Kreativität und Fantasie arbeiten?

Gibt es eine Rolle, die Sie unbedingt noch verkörpern möchten?

Wenn ich als Kind beim Spielen irgendwelche Rollen verkörperte, wollte ich immer ein Bösewicht sein. Auch heute spiele ich gern Rollen, die meiner Persönlichkeit eher entgegengesetzt sind – sei es ein Mafiaboss, der «Prinz von Homburg» oder Faust. Damit sind viele Traumrollen eigentlich schon verwirklicht. Aber wenn ich bald wieder laufen kann, würde ich natürlich gerne im 38. Remake Spiderman spielen.

Nach Ihrem Unfall nahmen Sie zudem die Tätigkeit als Autor auf. Wie kam es dazu?

Zunächst wollte ich mit der Öffentlichkeit nichts zu tun haben. Als Akt der guten Erziehung habe ich dann doch auf die unzähligen Zuschriften und E-Mails in Form eines Buches geantwortet. Ich war überrascht, wie gut mir die Arbeit mit dieser Mischung aus Rückblick, Bestandsaufnahme und Zukunftsmusik tat. Das Schreiben, oder besser Diktieren, bot mir eine intensive Möglichkeit, die Ereignisse noch mal bewusst Revue passieren zu lassen. Das mache ich bis heute gerne.

Gemeinsam mit Ihrer Frau haben Sie das Buch «Das Kuscheltier-Kommando» geschrieben. Weshalb ist es ein Kinderbuch geworden?

Sarah und ich finden es wichtig, Kinder schon früh an gute Botschaften heranzuführen, da die Psychologie zeigt, dass gewisse Glaubenssätze und Werte im Alter von null bis vier Jahren geprägt werden. Deswegen dachten wir: «Hey, schreiben wir ein Kinderbuch.» Und so fingen wir bei den ganz Kleinen an.

Was ist die Botschaft Ihres Kinderbuchs?

«Du bist einzigartig!» Und das kann man gar nicht oft genug sagen. Denn auch wenn einem selbst etwas fehlt, so wie dem Bären Pollo, der einen Arm verliert, ist man trotzdem wertvoll.

Gibt es eine Message, die Sie an die Öffentlichkeit vermitteln möchten?

Tatsächlich fühle ich mich manchmal mystisch überhöht und vermag keine allgemeingültigen Antworten zu geben. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das, was im Einzelfall hilft, so individuell ist, wie die einzelnen Persönlichkeiten und ihre Schicksale selbst. Was mir geholfen hat, kann für andere genau das Falsche sein. Häufig sind Ratschläge auch nur Schläge. Ich habe festgestellt, dass es sich für mich lohnt, seinen Wohlfühlbereich und seine barrierefreien vier Wände zu verlassen – auch wenn es Überwindung kostet.

Was braucht es Ihrer Meinung nach für ein erfülltes Leben?

Gerne versuche ich wegzuschauen von dem, was nicht geht, hin zu dem, was der oder dem Nächsten dient. Wofür würde es sich sonst zu leben lohnen, wenn nicht mit oder vor allem für andere Menschen?

Wofür würde es sich sonst zu leben lohnen, wenn nicht mit oder vor allem für andere Menschen? Samuel Koch

Wie leben Sie dieses Motto konkret?

Unter anderem durch die Tätigkeit in meinem Verein «Samuel Koch und Freunde e.V.». Dieser unterstützt Menschen, die anderen in Notlagen zur Seite stehen und sich dabei selbst verausgaben. Wir wünschen uns, dass diese Menschen wieder neuen Mut, Kraft und Hoffnung schöpfen können. Gemeinsam mit meinem Bruder Jonathan haben wir dieses Jahr zum Beispiel Bewegungsvideos für Unbewegte gemacht. Diese sind für alle online kostenlos abrufbar. Bei der Überflut an Workout- und Fitnessvideos für alle, die sich ohnehin bewegen können, ist uns das Thema Bewegung für Unbewegte ein grosses Anliegen.

Was planen Sie für die Zukunft?

Meine Erfahrungen haben mir gezeigt, dass Pläne leicht hinfällig werden können und dass es unfrei macht, zu sehr an etwas festzuhalten. Erst einmal freue ich mich aber auf meine bevorstehende Live-Tour.

Worauf können sich die Menschen bei der Live-Tour freuen?

Gute Musik, Sinnvolles, ab und zu ein bisschen Quatsch – reichlich Action und natürlich herrlich gefühlvoller Kitsch, um Schwere loszuwerden. Die Zuschauer:innen dürfen sich auf einen Abend voller Spass, Hoffnung und echter Gefühle freuen, eine Mischung aus Schauspiel, Konzert, Sit-up-Comedy, Varieté und inspirierenden Impulsen.

Interview SMA
Bild Nancy Ebert

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17.03.2022
von SMA
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