Die Geschichte der Menschheit ist immer auch eine über Kämpfe um Teilhabe an Politik, Gesellschaft und dem Leben im Allgemeinen. Seien es Kampagnen gegen soziale Ächtung, Diskriminierung oder systematische Unterdrückung, viele dieser Auseinandersetzungen ziehen sich bis in die heutigen Tage. Dies trifft genauso auf die Wünsche nach Barrierefreiheit zu, insbesondere da der vermeintlich körperlose Digitalraum der Zukunft neue Hindernisse beinhaltet.
Nils Mäder,
Dozent für Accessibility Design an der Schule für Gestaltung Zürich, UX-Designer bei «Notch – Member of Publicis»
Laut WHO leben etwa 15 Prozent der Weltbevölkerung, rund eine Milliarde Menschen, mit einer Form von Behinderung. In der Schweiz bewegt sich das Verhältnis in einem ähnlichen Rahmen. Denn aufgrund der verfügbaren Zahlen von 2017 schätzt das Bundesamt für Statistik BFS, dass schweizweit annähernd 1,8 Millionen Menschen mit Behinderung leben. Im Mittelalter oftmals als göttliche Bestrafung betrachtet, rückte mit dem medizinischen Fortschritt im 19. Jahrhundert die Biologie immer mehr in den Vordergrund. In den Zwischenkriegsjahren wurden die ersten Organisationen gegründet, die als Vorgängerinnen der heutigen nationalen und internationalen Bewegungen gelten.
Wechselnde Perspektiven
Der Zweite Weltkrieg verursachte einen jähen Abbruch der Bemühungen in Europa. Die nationalsozialistischen Einstellungen und ihr Fokus auf Biologie und Medizin führten zu Versuchs- und Euthanasieprogrammen, in welchen unzählige Menschen mit Behinderung gequält und getötet wurden. Im Zuge der Liberalisierung in der Nachkriegszeit begann sich die Sicht auf Menschen mit Behinderung erneut zu ändern, wenn auch nur schleichend. In der Schweiz stellte die Einführung der Invalidenversicherung 1960 einen Wechselpunkt dar. Der behördliche Umgang mit Menschen mit Behinderung erfuhr eine Revolution, obwohl Menschen mit dieser Handhabung nach ihrer Erwerbsfähigkeit beurteilt werden. Seit den 1980er-Jahren fanden die Inklusion von Menschen mit Behinderung und die individuelle Förderung vermehrt Eingang in öffentlichen Diskursen.
Der lange Weg zur Inklusion
Bestrebungen nach umfassender Teilhabe äusserten sich in der Schweiz mit der Lancierung der Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» im Jahr 1999. Der Kern der Initiative wurde daraufhin in die Totalrevision der Bundesverfassung aufgenommen, zu dessen Umsetzung das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG) 2004 in Kraft trat. Seitdem ist die Diskriminierung verboten. Hingegen greift das Benachteiligungsverbot nicht bei privaten Unternehmen und unterliegt der Verhältnismässigkeit.
Umgesetzt ist das Konzept der Barrierefreiheit noch bei Weitem nicht.
Mittlerweile hat sich die Mehrheit der Länder von der medizinischen Perspektive, welche Behinderungen als Krankheit betrachtet, abgewandt – zumindest formell. Denn 2006 wurde das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) verabschiedet. Dieses folgt dem menschenrechtlichen Modell, das vor allem die Perspektive von Gleichberechtigung, Inklusion und uneingeschränkter Teilhabe beinhaltet. Der völkerrechtliche Vertrag wurde von 184 Staaten ratifiziert und von der EU formal bestätigt. Auch die Schweiz ratifizierte 2014 das Übereinkommen. Das Konzept der Barrierefreiheit ist somit im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben angekommen. Umgesetzt ist sie aber noch bei Weitem nicht. Ironischerweise selbst dort nicht, wo der Körper eine untergeordnete Rolle spielen soll.
Digital heisst nicht zwingend barrierefrei
Der digitale Raum ist für Menschen mit Behinderung essenziell und erhöht deren Unabhängigkeit. Dennoch beinhaltet er genauso wie die physische Welt teilweise altbekannte Hindernisse. Nils Mäder zufolge, UX-Designer bei «Notch – Member of Publicis» und Dozent für Accessibility Design an der Schule für Gestaltung Zürich, ist in der Schweiz die Barrierefreiheit von digitalen Angeboten staatlicher Stellen und konzessionierter Unternehmen durch die Behindertengleichstellungsverordnung und dank dem eCH Accessibility-Standard gut. «Im privaten Sektor gibt es aber keine verpflichtenden Standards und die Zugänglichkeit ist dementsprechend schlechter. Viele Seiten wie Onlineshops schliessen rund einen Fünftel der Bevölkerung aus, da sie für Menschen mit Behinderung nur teilweise oder gar nicht bedienbar sind.»
Hindernisfreies Design
Grundsätzlich spielt bei Webseiten die Programmierung eine herausragende Rolle. Ist diese robust und nach den Standards gerichtet, sei laut Mäder schon ein Anfang gemacht: «Beispielsweise können dann assistierende Technologien wie Screenreader für Menschen mit einer Sehbehinderung zum Einsatz kommen.» Darüber hinaus erhöhen ausreichende Farbkontraste und Grösse der Schriften sowie Textalternativen bei Bild- und Videomaterial die Zugänglichkeit für Menschen mit einer Seh- oder Hörbehinderung. Beim Design sollte Mäder zufolge auch berücksichtigt werden, dass Nutzer:innen mit einer motorischen Einschränkung den Computer über Voiceover, die Tastatur oder Touch bedienen. Letzteres bedingt genügend grosse und klar gekennzeichnete Schaltflächen. Davon profitieren alle Benutzenden. «Schliesslich werden so gestaltete Schaltflächen im Allgemeinen als angenehm wahrgenommen», erklärt Mäder.
Durch Einbezug Hürden vermeiden
Eine Webseite oder andere digitale Dienstleistungen ohne Hindernisse für Menschen mit Behinderung zu gestalten, kann ungeahnte Komplexitäten zutage fördern. Unternehmen können sich aber an Expert:innen oder Zertifizierungsstellen wenden, um bestehende Dienste überprüfen zu lassen und Empfehlungen einzuholen. «Bei neuen Umsetzungen ist es wichtig, die Standards für Barrierefreiheit bereits bei der Programmierung und dem Design einzuhalten», empfiehlt Mäder. Für simple Dienste wie Webshops sorgt die Einhaltung der Standards für ausreichende Barrierefreiheit. Komplexere Projekte können gemäss Mäder vom «User-Centered Design Process» profitieren: «Wenn die effektiven Endnutzer:innen von Beginn an in das Projekt einbezogen werden, um die Bedienbarkeit zu überprüfen, macht dies einen grundlegenden Unterschied.»
Text Kevin Meier
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