Olympiasiegerin Jolanda Neff hat ihre grosse Leidenschaft zum Beruf gemacht. Mit «Fokus» spricht sie über ihre Entscheidung für eine sportliche Laufbahn, ihre Karriere und was sie lernen musste, um so weit zu kommen.
Jolanda Neff, 2012 starteten Sie gleich mit einem Schweizer-, einem Europa- und einem Weltmeistertitel erfolgreich in der U23 Ihre Profikarriere. Ursprünglich war jedoch für dasselbe Jahr der Beginn eines Studiums geplant. Wie kam es zum Entscheid gegen das Studium und für den Sport?
Nachdem ich meine Latein-Matura 2011 an der Kantonsschule St. Gallen gemacht hatte, wollte ich Geschichte und Französisch studieren. Ich war sogar schon an der Universität Freiburg angemeldet und hatte vor mit meiner besten Freundin zusammen eine WG zu gründen. Es war alles schon geplant, aber dann kamen gleich mehrere Faktoren dazwischen. Im selben Sommer absolvierte ich erfolgreich mein erstes Jahr in der U23. Vor allem der Weltmeistertitel war damals sehr speziell, weil diesen noch nie jemand gleich im ersten Jahr gewonnen hatte. Das war ein grosser Erfolg, woraufhin mir das damals beste Team der Welt einen Profi-Vertrag anbot. Gleichzeitig erhielt ich die Möglichkeit, die Spitzensport-RS der Schweizer Armee zu absolvieren. Dass zwei gute Freundinnen von mir ebenfalls dieses Angebot erhielten, erleichterte meine Entscheidung. Einerseits hatte ich also das Angebot eines Profi-Vertrags bei einem Weltklasse-Team und die Möglichkeit, die Spitzensport-RS mit Menschen zu absolvieren, mit denen ich mich gut verstand. Andererseits war da das Studium. Studieren, das wusste ich, kann ich auch noch in einigen Jahren. Ein solches Angebot, wie ich es damals auf dem Tisch hatte, ist jedoch einmalig. Deshalb habe ich mich zu jener Zeit gegen das Studium und für den Sport entschieden.
Trotz einer mehr als erfolgreichen Profikarriere haben Sie sich entschlossen, 2016 Ihr Studium in Geschichte und französischer und englischer Literaturwissenschaften an der UZH zu beginnen. Wie kam es dazu?
Auch wenn ich vier Jahre lang auf den Sport gesetzt hatte, habe ich die Bildung nicht vernachlässigt. 2015 studierte ich beispielsweise für ein Jahr an der Fernuni. Organisatorisch war dies jedoch eine grosse Herausforderung, da an drei Samstagen im Jahr Anwesenheitspflicht bestand und die Rennen meist auch an Wochenenden stattfanden. Letztlich lief es darauf hinaus, dass ich deshalb an einem Wettkampf nicht teilnehmen konnte. Bei einem Rennen zu fehlen, wirft einen aber in der Gesamtwertung zurück und kann als Verstoss gegen laufende Verträge mit Sponsoren gesehen werden. Da ich eine solche Situation künftig vermeiden wollte, schrieb ich mich 2016 an der Universität Zürich ein, weil sich die Anwesenheit dort besser einteilen lässt. Nach den Olympischen Spielen 2016 in Rio bot sich für mich ein passender Zeitpunkt, mit dem Studium zu beginnen. Im Sommer fuhr ich mein letztes Rennen und begann nahtlos mein Studium. Ein kompletter Tapetenwechsel, den ich aber begrüsste.
Wie gut lässt sich ein Studium mit dem Spitzensport vereinen?
Das Studium selbst hat mir sehr gut gefallen. Ich habe es genossen, etwas für meinen Kopf zu tun, ohne dass dies in irgendeiner Weise mit Sport verbunden war. Mit dem Weltmeistertitel im Sommer 2017 änderte sich jedoch alles. Es kamen zusätzliche Verpflichtungen und Termine hinzu, wodurch ich kaum mehr Zeit zum Trainieren hatte. Um zehn Uhr abends fuhr ich noch den Üetliberg hinauf, um doch noch etwas Sport zu treiben. Den ganzen Tag rannte ich von einem Termin zum anderen, ging um zwölf Uhr abends ins Bett und begann den Tag wieder um sechs Uhr morgens. Irgendwann ging dies gesundheitlich nicht mehr. Speziell in einer Woche realisierte ich, dass ich die Notbremse ziehen musste. Im Winter 2017 hatte ich nämlich vor, mit meiner Kollegin eine Woche Ferien auf Bali zu verbringen. Gerade zu diesem Zeitpunkt brach dort aber der Vulkan aus und so fiel unsere Reise aus. Ich blieb zu Hause, ging an die Uni und nahm mir Zeit fürs Training, hatte jedoch keine weiteren Termine. Das war die schönste Woche seit langer Zeit. Daraus zog ich die Bilanz, dass Studieren und Trainieren ein Traumleben für junge Sportler:innen sein muss – solange man noch keine weiteren Verpflichtungen hat. Steht man aber im Fokus der Öffentlichkeit, wird beides zusammen schwer realisierbar. Daraus habe ich gelernt und ich weiss jetzt, dass ich das Studium nicht beenden werde. Jedenfalls nicht, solange ich aktiv bin.
Wenn Sie keine Profi-Mountainbikerin geworden wären, in welchem Beruf würden Sie sich sehen?
Als ich jünger war, interessierte ich mich sehr für Journalismus und Kommunikation. Aber auch Lehrerin stand einmal auf meiner Liste. Besonders angetan haben es mir aber schon immer Sprachen, was sich später auch in meiner Studienwahl widerspiegelte. Ich geniesse an meinem jetzigen Beruf, dass ich mit Menschen aus der ganzen Welt zusammenkomme und die gelernten Sprachen anwenden kann. Das finde ich toll. Eine konkrete Berufsvorstellung hatte ich jedoch nie. Wie es sicherlich bei vielen Studierenden der Fall ist, wusste ich aber, in welche Richtung meine Interessen gingen. Alles Weitere wollte ich auf mich zukommen lassen.
Schaut man Ihnen beim Fahren zu, erkennt man, dass Sie mit viel Freude bei der Sache sind. Wie wichtig ist Leidenschaft für eine erfolgreiche Karriere?
Leidenschaft und Freude sind meiner Meinung nach das Wichtigste und auch Einzige, was es braucht. Ich glaube, man muss im Leben einfach etwas machen, was einem Freude bereitet. Dabei darf man sich nicht von finanziellen Bedenken aufhalten lassen. Auch nicht, wenn man einen eher unkonventionellen Weg, wie beispielsweise das Ziel, Sportler:in zu werden, gehen möchte. Ist man mit dem Herzen dabei, dann wird das einen weit bringen.
Woher kommt diese Leidenschaft bei Ihnen?
Schon als Kind war ich häufig in der Natur. Die gemeinsame Familienurlaube sind bis heute tolle Erinnerungen. Unsere Eltern boten ausserdem ein Velotraining an, bei dem alle Kinder aus der Region mittrainieren konnten. Wir lernten spielerisch, mit dem Velo umzugehen. Schon Mittwoch morgens freute ich mich auf den Nachmittag im Velotraining. Ich glaube, dort hat sich meine Freude für das Velofahren verankert. Aber nicht nur ich, sondern auch viele andere aus der Gruppe sind bis heute mit grosser Freude auf dem Velo unterwegs. Das, was meine Eltern damals auf die Beine gestellt und über zehn Jahre lang angeboten haben, war für uns alle ein wichtiger Teil – und damit auch ein Dienst an der Gemeinschaft.
Es wird gesagt, dass Sie eine sehr ehrgeizige Person seien. Stand Ihnen dieser Ehrgeiz schon mal im Weg?
Ich bin sicherlich eine sehr ehrgeizige und perfektionistische Person. Gerade im Hinblick auf Olympia 2016 in Rio wurde mir das wohl zum Verhängnis. Ich wollte damals immer mehr: Noch mehr trainieren, noch mehr Erholung und noch weniger Ablenkung. Ich habe den Kreis immer enger gezogen und mich nur noch auf den Sport fokussiert. Leider musste ich damals auf die harte Tour lernen, dass dies nicht gesund ist – auch mental. Ich realisierte, dass es mir besser geht, wenn ich einen Ausgleich habe und sich nicht ausnahmslos alles nur um Sport dreht. Man braucht eine gewisse Lockerheit. Der Sport ist nicht alles und ein Rennen zu verlieren kein Weltuntergang. Damals merkte ich, dass man mit zu viel Ehrgeiz nicht weiterkommt. Viel wichtiger ist es, eine angemessene Balance zu finden. Diese Balance habe ich gefunden, auch dank meinem persönlichen Umfeld. Ich denke, diese Erkenntnis war ein entscheidender Faktor dafür, dass ich dieses Jahr die Olympischen Spiele gewinnen konnte.
Ende 2019 erlitten Sie eine schwere Verletzung. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Besonders am Anfang war es schwierig. Ich hatte innere Verletzungen, war auf der Notfallstation und musste notoperiert werden. Nach einer sehr langen Erholungsphase konnte ich ab Sommer 2020 wieder Rennen fahren. Als dann aber die grösseren Wettkämpfe gestartet haben, wurde ich krank. Ich merkte, dass ich mich nicht gleich gut wie vor dem Unfall erholte. Monatelang hatte ich Nasennebenhöhlenentzündungen und -infektionen. Für Aussenstehende war die Situation schwierig nachzuvollziehen. Manche haben angefangen, meine Trainingsmethoden infrage zu stellen, weil ich nicht die gewohnte Leistung erbrachte. Diese Kritik hat mir grosse Mühe bereitet, denn für mich war klar, dass dies mit meiner Verletzung zusammenhing. Während der ganzen Zeit hatte ich aber immer auch Menschen, die hinter mir standen: meine Familie, Nationaltrainer Edi Telser, mein Freund Luca und seine Familie. Diese Menschen waren ganz entscheidend in dieser Zeit.
Seit Ihrem ersten Wettkampf 1999 haben Sie etliche Rennen gewonnen. Welcher dieser Siege bedeutet Ihnen am meisten?
Ganz klar die Olympischen Spiele. Diese stehen in unserem Sport über allem.
Was möchten Sie in Zukunft noch erreichen?
Mein grosses Ziel ist, dass ich weiterhin viel Freude am Velo- und Rennenfahren habe. Ich bin jetzt 28 und habe nicht das Gefühl, dass ich schon ein Ablaufdatum habe. Ich freue mich sehr auf die kommenden Jahre, besonders weil ich jetzt die letzten zwei Jahre viel zu beissen hatte und hoffe sehr, dass ich gesund bleibe und wieder Rennen gewinnen kann. Fünf Jahre lang habe ich jedes Jahr auf höchstem Niveau Weltcups gewonnen. Ich würde gerne wieder zurück zu diesem Flow finden, den ich vor der Verletzung hatte.
Wie schätzen Sie Ihre Chancen bei der aktuellen Weltmeisterschaft ein?
Normalerweise ist die Saison so aufgebaut, dass die WM das allerletzte Rennen der Saison ist. Das ganze Jahr ist entsprechend ein Steigerungslauf bis dorthin. Dieses Jahr mit der Olympiade ist das aber ganz anders. Die ganze Planung wurde nach vorne verschoben und alle wollten Ende Juli in absoluter Topform sein. Jetzt, nach meinem Goldmedaillengewinn, waren die letzten drei Wochen wie ein Wirbelwind, ein Event folgte nach dem anderen. Das war sicher nicht die ideale Vorbereitung, wie ich sie in anderen Jahren kannte. Trotzdem freue ich mich auf den Wettkampf. 2017 habe ich den Weltcup dort gewonnen, 2019 war ich Zweite. Sprich, ich habe gute Erinnerungen an diese Strecke. Sie liegt mir und das kommt mir hier entgegen.
Weitere Interviews mit interessanten Persönlichkeiten gibts hier.
Interview Lisa Allemann und Severin Beerli Bilder Armin M. Küstenbrück
Schreibe einen Kommentar