Interview von Matthias Mehl

Philipp Kutter: Ohne Vorwarnung ins «zweite Leben» geworfen

Ohne Vorwarnung ins «zweite Leben» geworfen: Der Nationalrat und Stadtpräsident erzählt von seinem Weg vom Unfallopfer zum inspirierten Paraplegiker.

Nationalrat der Mitte. Stadtpräsident von Wädenswil. Und seit dem 3. Februar 2023 Paraplegiker. An jenem folgenschweren Tag nahm das «erste Leben» von Philipp Kutter auf einer blauen Skipiste ein jähes Ende. Seit seinem schweren Sturz ist der heute 48-Jährige auf den Rollstuhl angewiesen. Der Unfall hat Kutter verändert. Aber nicht gebrochen.

Philipp Kutter

Herr Kutter, in einem Instagram-Beitrag zum Jahrestag ihres Unfalls schreiben Sie, dass vor einem Jahr Ihr erstes Leben endete. Wie ergeht es Ihnen derzeit im zweiten?

In den vergangenen Monaten ist natürlich ganz viel geschehen. Ein grosser Teil meines zweiten Lebens war und ist geprägt vom Abschiednehmen, da ich zahlreiche Dinge, die Teil meines Alltags waren und die mir früher leichtfielen, heute nicht mehr tun kann. Diesen Verlust sowie den Prozess des Loslassens, der damit einhergeht, muss ich schrittweise verarbeiten. Gleichzeitig ist mein zweites Leben auch stark geprägt von Neuorientierung: Was kann ich nach wie vor tun und bewirken? Welche Möglichkeiten stehen mir offen? Das sind essenzielle Fragen. Meine Gefühlswelt schwankt zwischen diesen beiden Polen hin und her, dem Abschiednehmen und der Neuorientierung.

Bereits im Dezember 2023, rund zehn Monate nach Ihrem Unfall, kehrten Sie für die Mitte in die Session zurück.

Das ist richtig und dieses Comeback war enorm wichtig für mich. Den herzlichen Empfang der Ratskolleginnen und -kollegen empfand ich als bewegend und motivierend. Auch meinen Pflichten als Wädenswiler Stadtpräsident komme ich wieder nach. Natürlich haben sich durch meine Einschränkung die Umstände verändert. Ich bin bei alltäglichen Sachen auf Hilfe angewiesen. Den Grossteil dieser Arbeit stemmt meine Frau, aber auch meine Freunde sowie Weggefährtinnen und -gefährten in der politischen Arbeit zeigen sich sehr hilfsbereit, sowohl im Wädenswiler Stadtrat als auch in Bern. Und ich möchte festhalten, dass ich wirklich beeindruckt und berührt davon bin, wie mich die Leute um mich herum unterstützen. Dies reicht vom Abziehen meiner Jacke bis hin zum Einrichten meines Laptops. Wenn ich dann einmal «fertig installiert» bin und meine Arbeit aufnehmen kann, fühlt es sich fast genauso an wie früher.

Sie haben die Relevanz des Umfelds angesprochen.

Ich kann die Wichtigkeit des Supports, den ich insbesondere von meiner Frau erhalte, mit Worten gar nicht genug würdigen. Meine Frau ermöglicht es mir, weiterhin in meinen gewohnten vier Wänden zu leben. Wäre ich alleinstehend, sähe meine Situation deutlich schwieriger aus. Auch meine Kinder, die im Primarschulalter sind, motivieren und unterstützen mich. Meine Familie gibt mir also enormen Halt und auch aus meinem weiteren Umfeld erfahre ich viel Zuspruch. Das erleichtert es mir, positiv durch dieses zweite, anspruchsvolle Leben zu gehen.

Das Thema «Barrierefreiheit» hatten Sie immer schon auf der politischen Agenda. Haben Sie durch Ihre neuen Lebensumstände hierzu neue Einsichten gewonnen?

Mein Blick wurde sicherlich zusätzlich geschärft für die Wichtigkeit dieses Themas. Denn erst, wenn man selbst direkt betroffen ist, erkennt man, wo noch überall Hürden bestehen. Und ich kann Ihnen sagen: Es gibt noch einige Barrieren, und sie sind nicht nur baulicher Natur, die wir angehen müssen. An diesen Fronten kämpfe ich. Denn Menschen mit Beeinträchtigung müssen den gleichen Zugang zu Gebäuden und dem ÖV erhalten wie alle anderen auch. Auch hinsichtlich Informationszugang ist Gleichheit und Fairness notwendig, damit beeinträchtigte Menschen unter anderem wissen, welche Art von Unterstützung sie in Anspruch nehmen könnten. Da sehe ich einigen Handlungsbedarf. Der ÖV ist in diesem Zusammenhang mein Steckenpferd, die Verkehrsfrage war mir schon immer ein besonderes Anliegen. Die Verkehrsbetriebe, Kantone und Gemeinden hatten 20 Jahre Zeit, um die gesetzlich geforderte Barrierefreiheit in ihren Infrastrukturen umzusetzen – und haben dies nicht hinbekommen. Das ist inakzeptabel. Mit solchen Versäumnissen vergeben wir uns auch als Gesamtgesellschaft eine grosse Chance.

Welche Chance meinen Sie genau?

Personen mit einer Beeinträchtigung können einen wertvollen Beitrag in unserer Gesellschaft leisten – doch dies setzt Barrierefreiheit und Teilhabe voraus. Dafür benötigen wir unter anderem bauliche Massnahmen, aber auch kulturelle Anpassungen. Wir müssen also unsere bebaute Umwelt sowie unsere Denkweise verändern, damit alle Menschen ihr individuelles Potenzial entfalten können.

Wie barrierefrei erleben Sie Ihre Stadt Wädenswil?

In Sachen Barrierefreiheit bewegen wir uns im Durchschnitt. Mit meinem E-Rollstuhl bin ich recht selbstständig unterwegs, aber natürlich gibt es auch bei uns Verbesserungspotenzial.

Nach Ihrem Unfall wurden Sie von den Fachleuten des Schweizer Paraplegiker-Zentrums Nottwil betreut. Haben Sie auch für Ihre mentale Gesundheit Hilfe erhalten?

Ja, ich hatte zu Beginn in Nottwil Unterstützung durch einen Psychologen. Inzwischen nehme ich keine professionelle Hilfe mehr in Anspruch. Ich versuche, mich immer auf die Entdeckung derjenigen Dinge zu konzentrieren, die mir in meiner neuen Situation noch möglich sind. Es gab und gibt Zeiten der Traurigkeit, aber glücklicherweise bin ich nicht darin verharrt oder gar darin versunken. Das ist natürlich auch meiner Frau und meinen Kindern zu verdanken. Ich möchte aber keinesfalls ausschliessen, dass ich dereinst einmal wieder psychologische Hilfe in Anspruch nehmen werde. Derzeit befinde ich mich in der komfortablen Lage, dass mich meine Familie stützt und erdet. Dafür bin ich ebenso dankbar wir für die erstklassige Arbeit der medizinischen Fachkräfte in Nottwil. Dass wir hierzulande über ein solches Kompetenzzentrum verfügen, ist nicht weniger als ein Glücksfall für unser Land.

Ihre Mentalität ist stark vom Blick nach vorne geprägt. Wie wird Ihre Politik künftig aussehen?

Ich werde mich mit aller Kraft für die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung einsetzen. Die Familienpolitik wird weiterhin grosse Priorität in meiner Arbeit erhalten. Durch meine Erfahrungen nach dem Unfall bin ich überzeugter denn je, dass wir den Familien als soziale Einheiten Sorge tragen müssen. Sie sind ein Netz, das Menschen wirklich trägt und es lohnt sich, in dieses zu investieren. Dann stehen auch dringliche Wirtschaftsfragen auf meiner Agenda. Wir leben in einer krisengeprägten Zeit und müssen unseren Wohlstand bewahren. Hierfür erachte ich ein gutes Verhältnis zur EU als unerlässlich. Generell steht die Schweiz vor der Herausforderung, ihren Platz in der Welt neu zu definieren. Was bedeutet Neutralität in der heutigen Zeit sowie im Kontext der aktuellen Weltlage? Diese Frage treibt mich um und ich denke, wir werden unsere Rolle neu definieren müssen. Und natürlich möchte ich meinen Kindern einen lebenswerten Planeten hinterlassen, weswegen ich mich auch in den Bereichen Umwelt und Klima engagieren werde.

Was würden Sie als Schlusswort allen Menschen mit auf den Weg geben, die entweder selbst eine so einschneidende Lebensveränderung wie Sie durchgemacht haben, oder die über nahestehende Personen verfügen, auf die das zutrifft?

Ich weiss nicht, ob ich befugt bin, nach relativ kurzer Zeit im Rollstuhl Empfehlungen abzugeben. Mir hat es geholfen, den Blick auf das zu richten, was bleibt oder folgt. Der Fokus sollte nicht zu lange auf den Lebensaspekten verweilen, die man unweigerlich verliert. Denn es gibt immer Neues zu entdecken und auch Bekanntes neu zu interpretieren. Gelernt habe ich auch Folgendes: Nach einem Unfall schiessen einem tausende Fragen durch den Kopf, auf die man am liebsten sofort eine Antwort hätte. Doch das geht oft nicht. Man darf sich Zeit lassen, um sich in diesem neuen, zweiten Leben zurechtzufinden.

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31.05.2024
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