Die Bedeutung des Rückblicks zum Jahresende: Rundumsicht mit Empathie
An der Schwelle eines neuen Jahres wagen wir einen Rückblick auf das vergangene Jahr. Wo ist die Zeit nur hin? Und was wurde aus all den guten Vorsätzen? Solche Fragen können als Basis für das nächste Jahr dienen: ein wohlwollender Blick auf das Leben und ein geschärftes Auge für das, was wirklich zählt. Denn fünf Kilo weniger ist kaum der Grund für ein besseres Leben.
Bald wird das gefürchtete Januarloch wieder sein hässliches Haupt erheben – wenn die dunklen Tage endlos erscheinen und der Glanz der Feiertage sich langsam in Arbeit und Alltag auflöst. In tristen Zeiten schaut man zurück zu den schönen Momenten und bereut möglicherweise jene Chancen, die man nicht ergriffen hat. Man fragt sich, ob man wirklich glücklich ist und ob man überhaupt weiss, was einen glücklich macht.
Gute Absichten auf Abwegen
An sich ist die mentale Reise in die Vergangenheit eine gute Sache, ist der klinische Psychotherapeut und Achtsamkeitscoach Wilfried Van Craen überzeugt: «Das Jahresende ist für viele Menschen ein Zeitenumbruch: Viele möchten mit einem neuen Ansatz das Leben angehen. Es ist eine Weggabelung, bei der wir nach einem Wegweiser suchen, um den richtigen Pfad zu wählen. Das eröffnet die Chance, das Steuer wieder in die Hand zu nehmen. Rückblicke helfen, wohlbedachte Entscheidungen zu treffen. Wir leben schliesslich nur ein Mal. So müssen wir am Ende nicht sagen: ‹Hätte ich doch nur…›»
Mit seinem philosophischen Konzept der ewigen Wiederkunft argumentiert Nietzsche, dass wir unser Leben so gestalten sollten, dass wir jederzeit bereit wären, dasselbe Leben noch einmal von vorne zu leben. «Es geht um das grosse Ganze», verdeutlicht Van Craen, «Ende Jahr sollte man sich folgende Fragen stellen: Würde ich das vergangene Jahr noch einmal in seiner Gesamtheit durchleben wollen? War es trotz aller Höhen und Tiefen befriedigend und die Mühe wert? Wenn man sich den gestrigen Tag im Kalender anschaut, würde man ihn nochmals durchleben wollen? Was ist mit vergangener Woche oder dem Vormonat? Wenn ich den Leuten diese Fragen während eines Kurses stelle, wird ihnen oft klar, dass sie schon seit einiger Zeit nicht mehr das Leben führen, das sie eigentlich wollen. Eine ziemlich ernüchternde Erfahrung.»
Persönliche Prioritäten
Um die Zukunft herbeizuführen, die wir uns wünschen, müssen wir gewisse Entscheidungen treffen. Leider sind unsere Vorsätze oft weniger konkret als gedacht. Sie tarnen sich als gute Absichten, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Die Gründe liegen auf der Hand, wie Van Craen darlegt: «Oft sind die guten Absichten zu abstrakt, unrealistisch oder schlicht unpassend. Denn sie spiegeln in erster Linie gesellschaftlich erwünschtes Verhalten wider und ignorieren unsere persönlichen Bedürfnisse. Klassiker, wie mehr Sport zu treiben oder auf die Linie zu achten, sind die Art von Vorsätzen, die viele vor allem deshalb fassen, weil sie ins gesellschaftliche Bild passen – nicht, weil sie dadurch tatsächlich glücklicher werden.»
Die wirklich wertvollen Dinge des Lebens sind die persönlichen Prioritäten, die alle von uns für sich selbst abstecken müssen, erklärt Van Craen: «Was lässt das Herz schneller klopfen? Was braucht es, um am Ende des Jahres zu sagen, dass es ein gutes und zufriedenstellendes Jahr war? Schlanksein war noch nie der Grund für ein gutes Leben. Vielleicht aber, weil man für geliebte Menschen da war. Oder weil man viel gegeben und viel zurückbekommen hat.»
Schwierige Gefühle wie Angst, Traurigkeit oder Wut sind menschlich. Das Entscheidende ist, wie mit diesen Gefühlen umgegangen wird. – Wendy de Pree, Entwicklungspsychologin
In Werte investieren
Um nicht konstant auf der Überholspur zu leben, sollte man ab und an einen Blick in den Rückspiegel werfen. Das erfordert Nachsicht mit sich selbst, sagt die Entwicklungspsychologin und Verhaltenstherapeutin Wendy de Pree: «Die Idee von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl kommt von der Akzeptanz- und Bindungstherapie. Dabei wird gelernt, dass es Gefühle, Gedanken und Ereignisse gibt, über die man keine Kontrolle hat. Schwierige Gefühle wie Angst, Traurigkeit oder Wut sind menschlich. Das Entscheidende ist der Umgang mit solchen Gefühlen. Statt streng und kritisch mit sich selbst zu sein, sollte man liebevoll und warmherzig sein. ‹Müdigkeit ist ganz normal. Wo finde ich die Energie, um doch noch meinen Hobbys nachzugehen?› statt ‹Heute bin ich wieder zu nichts gekommen. Ich fühle mich faul und nutzlos›. Der Perspektivenwechsel ist nicht ganz einfach, es ist Übungssache.
Den sanften Rückblick fassbar machen
Ein simpler Glasbehälter mit Deckel kann als Hilfsmittel dienen, den eigenen Lebensweg mit milderen Augen zu betrachten. De Pree rät, das Jahr über am Ende jeder Woche ein schönes Erlebnis auf einen Notizzettel zu schreiben und alle in einem Behälter zu sammeln. Am Silvesterabend kann man sich einen ruhigen Moment gönnen, sich gegenseitig die schönen Erlebnisse vorlesen und in glücklichen Erinnerungen schwelgen. Was hat uns im vergangenen Jahr glücklich gemacht? In welchen kleinen oder grossen Momenten fanden wir das Glück?
In Bezug auf die persönliche Entwicklung kann man sich an Werten orientieren. Die Psychologin empfiehlt ein Spiel mit «Wertekarten» wie Ehrgeiz, Zuverlässigkeit oder Selbstbeherrschung. Das Spiel besteht darin, die Karten nach persönlicher Wichtigkeit zu ordnen. Anschliessend wird beurteilt, wie viel man durch das Jahr in die Weiterentwicklung dieser Werte investiert hat. Wenn an den bedeutendsten Werten nicht genug gearbeitet wurde, sollte man sich dies für das folgende Jahr vornehmen.
Man kann sich auch gegenseitig Fragen stellen, die unter die Haut gehen: Was hat dich als Kind begeistert? Wie hättest du gerne, wie deine Kinder über dich sprechen? Auf wessen Kritik hörst du genau? Peer empfiehlt Spiele dieser Art, um dem Jahresende nochmals Tiefe zu verleihen.
Ausserdem sollte man die Macht der Traditionen nicht unterschätzen, egal wie klein, individuell oder seltsam sie erscheinen mögen. Man darf sich ruhig Gedanken darüber machen, was Weihnachten oder Silvester zu einer besonderen Zeit für die Familie macht. Sind es wirklich der schön dekorierte Tisch und das Fünf-Gänge-Menü? Möglicherweise finden die Kinder es gar nicht so toll, dass die Eltern rund um Weihnachten gestresst hin und her rennen. Es ist nichts Verwerfliches daran, wenn man das Jahresende in der Familie auf eine ganz eigene Art zelebriert. Den 25. Dezember in Pyjamas zu feiern und abends Reste vor dem Fernseher nochmals zu geniessen, kann eine genauso bedeutungsschwere und wohltuende Tradition sein wie ein aufwendiges Fest. Solange alle glücklich sind, macht man nichts falsch. Hauptsache es entstehen innige Verbindungen zwischen den Menschen.
Text Heleen Driesen
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