historische bücher in einer alten bibliothek. symbolbild kunst heilt seele
iStock/fotoduki
Erholung Gesundheit

Vom Theaterwahn zu den «Holy Seven»: Wie Kunst die Seele heilt

05.10.2024
von SMA

In vielen entwickelten Ländern wird mittlerweile fast die Hälfte aller Krankheiten durch das Zusammenspiel von Umwelt, Gesellschaft und Medizin verursacht. Besonders psychosomatische Störungen, bei denen seelische und psychische Faktoren eine zentrale Rolle spielen, sind in den letzten Jahrzehnten auf dem Vormarsch. Doch dieser Zusammenhang ist keineswegs neu: Schon lange wird die Beziehung zwischen seelischen Leiden und den Herausforderungen der jeweiligen Zeit untersucht.

Michael Kortschmitt, Arzt & Schriftsteller

Michael Kortschmitt
Arzt & Schriftsteller

In der Zeit von Johann Wolfgang von Goethe und Karl Philipp Moritz gab es beispielsweise die religiöse Melancholie, die vor allem Handwerker wie Schuster und Spinnerinnen plagte. Zeitgleich erkrankte die akademische Jugend an der sogenannten «Theateromanie» – eine Besessenheit für das Theater, die sich in Symptomen wie nervösem Fieber, Dysphorie und Apathie äusserte.

Ende des 20. Jahrhunderts prägte der Begriff der «Holy Seven» die wissenschaftliche Diskussion über psychosomatische Erkrankungen. Dazu zählten Bluthochdruck, Asthma, Schilddrüsenüberfunktion, rheumatoide Arthritis, Magengeschwüre, Colitis ulcerosa und Neurodermitis. Doch die moderne Konsumgesellschaft hat diese Liste erweitert: Typ-2-Diabetes, das Reizdarmsyndrom und Fettleibigkeit gehören heute zu den typischen Erkrankungen unserer Zeit.

Schon Goethe erkannte die heilende Kraft der Kunst, besonders des Theaters. Seine Operette «Lila» war in seinen Augen nichts weniger als eine «seelische Behandlung eines gestörten Gemütszustandes», eine Darstellung, in der der Wahnsinn selbst als Heilmittel gegen Wahnsinn fungiert. Ähnlich dachten der Dramatiker Jean de Rotrou und der Psychiater Johann Christian Reil. Reil schlug in seinem Werk «Rhapsodie über die Anwendung der psychischen Therapie» sogar vor, Theaterinszenierungen als Therapieform zu nutzen.

Was verband die Werke dieser Künstler:innen und Denker:innen? Sie alle verfolgten das Ziel, beim Publikum einen Zustand der Katharsis zu erreichen. Dieser antike Begriff beschreibt die seelische Reinigung durch das Erleben von Kunst, indem sie starke Emotionen freisetzt und innere Konflikte löst. In der griechischen Tragödie sah Aristoteles eine Methode, durch die Erzeugung von Mitleid und Furcht die Seele zu reinigen und moralisch zu erheben.

Ein gut geschriebener Roman kann noch immer tiefe Emotionen wecken und den Leser:innen in eine bessere, moralisch gestärkte Wirklichkeit versetzen.

Während die klassische Kunst danach strebte, das Publikum durch kontrollierte Emotionen zu bilden und zu läutern, sah die Romantik in der Fülle der Gefühle und Erfahrungen den wahren Kern des menschlichen Lebens. Lessing, eine Schlüsselfigur dieser Bewegung, erkannte, dass die kathartische Wirkung nicht im Zurückhalten von Leidenschaften, sondern in ihrem vollständigen Erleben lag. Nur so könne der Mensch durch Kunst edle und menschliche Gefühle entwickeln.

Doch die Zeiten haben sich geändert. In unserer modernen Welt, geprägt von wirtschaftlichem Druck, Konsumkultur und sozialer Isolation, verliert der Mensch zunehmend die Fähigkeit zu Empathie und Solidarität. Die Katharsis, einst eine Kraftquelle der Kunst, scheint in vielen Fällen nur noch ein Schatten ihrer früheren Wirksamkeit zu sein.

Ludovico Castelvetro, ein Literaturtheoretiker, sah die Katharsis als «hedone», als Vergnügen daran, dass man sich durch das Mitfühlen mit den Figuren seiner eigenen moralischen Güte bewusst wird. Doch hedone kann auch eine dunkle Seite haben, wie der römische Dichter Lukrez bemerkte: Es sei ein Vergnügen, den Sturm zu sehen, der einen anderen erfasst hat, oder das Schlachtfeld aus sicherer Entfernung zu betrachten, auf dem Krieger einander töten. Dieses distanzierte Vergnügen, so Lukrez, offenbare eine gefährliche Seite der menschlichen Natur.

In der Neuzeit hat das Kino die Rolle des Theaters als kollektive Kunstform weitgehend übernommen. Während die Literatur ein langsames, intellektuelles Vergnügen bietet, entfaltet der Film seine Wirkung durch die unmittelbare Kraft realistischer Bilder und Töne. Diese direkte Sinnesansprache ermöglicht es dem Publikum, sich emotional intensiv zu involvieren – ähnlich wie das antike Theater.

Trotzdem hat die Literatur ihre kathartische Wirkung nicht ganz verloren. Ein gut geschriebener Roman kann noch immer tiefe Emotionen wecken und den Leser:innen in eine bessere, moralisch gestärkte Wirklichkeit versetzen. Dennoch scheint die Zukunft der literarischen Kunst in Werken zu liegen, die zunehmend filmischer werden – in Texten, die es den Leser:innen ermöglichen, die Handlung beinahe mitzusehen, zu hören und zu fühlen. Wie Umberto Eco sagte: Literatur, die «offen» ist und die aktive Beteiligung der Lesenden fordert, könnte die modernen Bedürfnisse nach ästhetischer Distanz und Sinnlichkeit befriedigen.

Text Michael Kortschmitt

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Vorheriger Artikel Die Wirkweise der Neurofeedbacktherapie
Nächster Artikel 6 Schlafgeheimnisse: Der Weg zu einer erholsamen Nacht