Das Leben beim Schopfe packen, mit etwas Ehrgeiz ausprobieren und sich laufend verbessern. So könnte man den Werdegang von Marlen Reusser zusammenfassen. Im Laufe ihrer Karriere wurde sie immer erfolgreicher, angefangen bei Top-Ten-Platzierungen bei der Women’s World Tour über Spitzenplätze in Europa- und Weltmeisterschaften bis hin zu einer Medaille an den Olympischen Spielen 2020 in Tokio. Mit «Fokus» hat sie über ihr Studium, den Profi-Radsport und ihre weiteren Pläne gesprochen.
Marlen Reusser, Sie haben schon beinahe Ihr ganzes Leben Sport getrieben. Wie sind Sie schliesslich beim Radsport gelandet?
Schon früh habe ich mir ein Rennvelo angeschafft. Ich erinnere mich an einen Sprachaufenthalt für Französisch bei einer Rennrad-begeisterten Familie. Von Beginn an bereitete es mir Freude. Im Sommer bin ich immer öfter im Freundeskreis oder mit meinem Vater gefahren. Dazu kam, dass ich ein angeborenes Problem mit meinen Füssen habe und deshalb meiner Leidenschaft für den Laufsport nicht nachgehen konnte. So wurde es zunehmend evident, dass das Radfahren mein Hauptsport werden würde.
Während der Anfänge ihrer Sportkarriere haben Sie noch Medizin studiert und als Ärztin gearbeitet. Weshalb haben Sie sich damals zu einer medizinischen Ausbildung entschlossen?
Aufgrund meiner vielfältigen Interessen war es schwierig, mich für ein Studium zu entscheiden. Viele Studiengänge wären möglich gewesen. Erst mal habe ich mich für den Numerus clausus angemeldet. Diesen habe ich bestanden und ein Medizinstudium schien mir passend. Unterschiedliche Aspekte verschiedenster Disziplinen werden darin vereint: Biochemie und Chemie, Physik, Mathematik, Biologie, aber auch Soziologie, Ethik und Philosophie. Das fand ich sehr spannend und habe das Studium deshalb geschätzt. Erst während meines Studierendenlebens setzte ich mich mit dem eigentlichen Beruf der Ärztin auseinander.
Wie gelingt es, eine akademische Karriere mit einer sportlichen zu vereinen?
Das musste und wollte ich eigentlich nie. Während der Vorbereitungen auf das Staatsexamen gegen Ende des Medizinstudiums begann ich vermehrt Velo zu fahren. Es war ein Ausgleich zum Studium, das stets im Vordergrund stand. Der Sport tat mir in dieser Hinsicht gut. Danach versuchte ich für kurze Zeit, 100 Prozent zu arbeiten und gleichzeitig zu trainieren. Schnell merkte ich, dass mich das überforderte. So habe ich erst mein Arbeitspensum auf 50 Prozent verringert und schlussendlich liess ich es ganz sein. Wie eine Vereinigung gelingt, kann ich also nicht sagen. Im Radsport empfinde ich dies als schwierig zu realisieren und glaube, dass es nur in Ausnahmefällen möglich ist. Für andere Sportarten wie Triathlon oder Mountainbike sieht es vielleicht anders aus.
War es ein schwieriger Entscheid, sich Vollzeit dem Profisport zu widmen?
Dadurch, dass ich zur selben Zeit arbeiten und professionellen Sport zu treiben versuchte, erkannte ich, dass ich an beiden Orten am Limit lief und nirgendwohin steuerte. Man leistet weniger als 50 Prozent in jedem Bereich, wird aber immer müder. Die Entscheidung fiel leicht, weil ich wusste, dass ich das Potenzial für den Profiradsport habe, dieses jedoch nicht neben einem weiteren Job ausschöpfen kann. Zudem war der Wechsel nicht mit einem Risiko verbunden, da ich das Vertrauen hatte und immer noch habe, dass ich schnell in den Beruf der Ärztin zurück könnte. Die Schwelle, es zu versuchen, war nicht hoch.
Sie sagen, sie seien stolz darauf, «den Rank im Leben gefunden zu haben». Können Sie näher darauf eingehen?
Das ist eine grosse Frage, über die es viel zu erzählen gäbe. In meiner Jugend und im frühen Erwachsenenalter stellte ich sehr hohe Ansprüche an mich selbst. Für eine junge Frau bedeutet das, einen schlanken, schönen Körper zu haben, hübsch zu sein, bei anderen Gefallen finden. Gleichzeitig soll man vieles leisten und belesen sein. Ich kann nicht beantworten, woher diese Ansprüche genau kommen; das ist eine längere Diskussion, die man führen kann und muss. In meinem Fall musste der Druck auf irgendeine Art entweichen: Ich habe «overperformed» und bekam Mühe mit dem Essen. Heute würde man es am ehesten Binge-Eating nennen: Ich habe extrem viel gegessen, um mich danach selbst mit Salat und Suppe zu kasteien. Es hat sich zwar nie im Gewicht manifestiert, aber es war bestimmt kein gesunder Zustand. Über die Jahre kam ich weg von dieser Dynamik durch gute Leute und Lebenserfahrung, vielleicht auch durch das Erwachsenwerden. Nun sehe ich ähnliche Muster bei der jüngeren Generation und vermute, dass junge Frauen Ähnliches durchmachen. Es ist ein schwieriges Thema. Einerseits freut es mich, den Rank gefunden zu haben und dem Druck entkommen zu sein. Andererseits möchte ich nicht nur das schöne, glänzende Leben vorzeigen, sondern auch davon erzählen. Es war schwieriger, hierhin zu kommen, als man es sich vorstellt.
Man muss sich bewusst sein, dass Onlinepersönlichkeiten auch mit sich selbst zu kämpfen haben und nicht immer nur gut drauf sind. Marlen Reusser
Können Sie daraus Ratschläge für andere ableiten, die ebenfalls «den Rank finden» wollen?
Heute ist es mit Social Media wahrscheinlich noch schwieriger. Man sieht Glanz und Gloria, dabei gibt es unzählige Studien dazu, wie ungesund die sozialen Medien für die Psyche und den Selbstwert sind. Ich kann es mir durch meine Erlebnisse ungefähr vorstellen, wie die heutige Generation unter Druck steht. Zu diesem Thema habe ich eine hervorragende Anekdote eines Werbeshootings für ein Hotel: Für das Marketing wurden einige Influencer:innen eingeladen und ich war als Velotourenleiterin dabei. Es war ein unglaublich anstrengendes Wochenende, alle fotografierten, texteten und posteten unermüdlich. Wenn man aber nur den Content sah, schien es hingegen, als hätten wir ein spassiges und entspanntes Weekend verbracht. Mein Ratschlag ist, Social Media zu hinterfragen: Was steckt dahinter? Wie sieht die Person ohne Filter und Make-up aus? Frage nach, wie es den Menschen wirklich geht. Man muss sich bewusst sein, dass Onlinepersönlichkeiten auch mit sich selbst zu kämpfen haben und nicht immer nur gut drauf sind.
Wie gehen Sie mit Rückschlägen um?
(Zögert) Ich muss sagen, dass ich kaum wirkliche Rückschläge erlebt habe. Würde ich etwas durchmachen, das man so bezeichnen könnte, würde ich es «Reframen», also umwerten. Es fühlt sich so nicht mehr wie einen Rückschlag an, wenn man Chancen und das Gute sieht, die aus einer solchen Situation entstehen können. Ich zögere, weil ich einmal einen schlimmen Sturz hatte, aber selbst diesen bewerte ich im Nachhinein positiv. Deshalb gibt es den banalen Spruch: Was man nicht ändern kann, muss man hinnehmen und damit umgehen. Diesen sollte man nicht nur hören und sagen, sondern auch umsetzen. Es klingt so einfach, aber man muss das Beste aus den Lebenssituationen machen, die Dinge im eigenen Weltbild zurechtlegen.
Zur positiven Seite des Lebens: Haben Sie ein Geheimrezept für Erfolge?
Nein, ein Geheimrezept habe ich nicht (lacht). Vieles muss für einen Erfolg zusammenkommen. Ich bringe einige physische und mentale Aspekte mit, die es in diesem Sport braucht. Ausserdem komme ich aus privilegierten Verhältnissen mit einem stabilen Umfeld und einer tollen Familie. Ich erfahre Unterstützung vonseiten der Gesellschaft, meinen Arbeitgebenden und dem Verband. Wichtig ist auch meine Neugier und dass ich die Leidenschaft habe, meine Ziele erreichen zu wollen. All dies ist aber noch keine Garantie für Erfolg.
2020 und 2021 wurden Sie darüber hinaus zur Schweizer Radsportlerin des Jahres gewählt. Wie fühlt sich das an?
2021 wurde ich mit meinen Kolleginnen wiedergewählt, die ebenfalls in Tokio Medaillen gewannen. Das ist doppelt schön. Es ist toll, wenn sich Menschen mitfreuen und -fühlen sowie einen auszeichnen.
Wenn Sie etwas an Ihrem bisherigen Leben ändern könnten, würden Sie es tun und was wäre das?
Ich glaube, ich würde es nicht tun. Alles, was schiefläuft und als Fehler angesehen werden kann, sind Teile von Prozessen, die den Lebensweg ausmachen. Im Leben geht es darum, auszuprobieren, zu hinterfragen, auch Fehltritte in Kauf zu nehmen, zu scheitern und Dinge neu zu versuchen. Wenn man stillsteht, wird man abgehängt und das Dasein macht kaum noch Spass. Ein Teil von mir würde bestimmt gerne den Druck und die Probleme, die ich erwähnte, ändern. Trotzdem finde ich, dass dies wichtige Situationen sind, die ich durchgemacht habe. Vermutlich werde ich mit 80 noch nicht ausgelernt haben. So ist das Leben.
Fehler sind Teile von Prozessen, die den Lebensweg ausmachen. Marlen Reusser
Welche Ziele haben Sie sich für 2022 gesteckt?
Lernen, ausprobieren, scheitern, nochmals versuchen. Mit meinem neuen Team SD Worx wird der Fokus auf Strassenrennen liegen. Da kann ich noch vieles lernen und neue Rollen einnehmen. Ich freue mich darauf und hoffe, dass bereits in diesem Jahr Erfolge dabei herauskommen. Nach wie vor ist ein weiteres meiner Ziele, Weltmeisterin im Einzelzeitfahren zu werden. Das ist noch nicht erledigt.
Bild Marco Zanoni
Schreibe einen Kommentar