flavio romerio flavio romerio: «jus ist kein zweck in sich selbst»
Finanzen Recht Interview

Flavio Romerio: «Jus ist kein Zweck in sich selbst»

21.01.2021
von Fatima Di Pane

Flavio Romerio, Managing Partner von Homburger, tätig im Bereich White Collar & Investigations, spricht über seinen prägendsten Fall, weiss Rat für Jus-Interessierte und verrät, welches Gitarrensolo er noch meistern möchte. 

Herr Flavio Romerio, Sie beschäftigen sich vor allem mit Fällen aus der Wirtschaftskriminalität. Wie sind Sie in diesem Bereich gelandet?

Begonnen hat es in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre mit der Auseinandersetzung um die nachrichtenlosen Vermögen von Holocaustopfern. Wir haben damals eine der beteiligten Banken auf der Suche nach den Vermögenswerten der Opfer begleitet und unterstützt. Das war zu jenem Zeitpunkt die grösste Untersuchung, die je stattgefunden hat. So habe ich die Welt der Untersuchungen entdeckt.

In den letzten 15 Jahren hat sich dieser Bereich stark entwickelt. 

Zum einen hat in dieser Zeit die Regulierungsdichte erheblich zugenommen, in der Schweiz, aber auch weltweit. Hinzu kommt eine «Verstrafrechtlichung» des Rechts. Wenn heute etwa im Finanzbereich neue Regeln erlassen werden, wird meist auch eine Strafnorm gesetzt, die den Verstoss gegen die neuen Regeln unter Strafe stellt. Diese Ausweitung der Regulierung und Strafbarkeit hat, vor allem auch auf internationaler Ebene, die Komplexität von unternehmerischen Aktivitäten stark gesteigert. Damit erhöhte sich die Bedeutung der Compliance, aber eben auch das Risiko von Rechtsverstössen.

Wenn heute etwa im Finanzbereich neue Regeln erlassen werden, wird meist auch eine Strafnorm gesetzt, die den Verstoss gegen die neuen Regeln unter Strafe stellt. Flavio Romerio

Mitte der 2000er-Jahre haben Staatsanwälte, vor allem in den USA, damit angefangen, vermehrt strafrechtliche Untersuchungen gegen Unternehmen zu führen. Diese Welle ist mit Verzögerung auch in die Schweiz übergeschwappt. Etwa zum gleichen Zeitpunkt wurde die Strafbarkeit von Unternehmen in der Schweiz eingeführt. Besonders im Nachgang zur Finanzkrise von 2008 haben die Aufsichtsbehörden begonnen, einen Fokus auf das Enforcement zu legen, also die zwangsweise Durchsetzung von Aufsichtsrecht. Auch die Strafbehörden ermitteln vermehrt gegen Unternehmen, namentlich in den Bereichen Korruption und Geldwäscherei. Diese Faktoren haben zu einer deutlichen Zunahme derartiger Verfahren in der Schweiz geführt.

Im gleichen Zeitraum erlebten wir ein exponentielles Wachstum an Daten. Die geschäftliche und private Welt wurde umfassend digitalisiert. Dadurch entstehen zahlreiche digitale Spuren, die aufzeigen, was die von der Untersuchung betroffenen Personen und ihr Umfeld getan und beabsichtigt haben. In der alten, analogen Welt gab es dies nicht. Die heutige Datenmenge, in Kombination mit der Regulierungsflut und dem verstärkten Enforcement, wirken wie ein Brandbeschleuniger für wirtschaftsstrafrechtliche Untersuchungen.

Ihre Fälle sind oft internationaler Natur. Welche Schwierigkeiten gehen damit einher?

Viele unserer Fälle haben in der Tat eine internationale Komponente. Wir müssen uns deshalb ständig mit neuen Konstellationen, kulturellen Differenzen und Fragestellungen auseinandersetzen. Ich finde das spannend. Etwa zu sehen, wie verschiedene Länder die genau gleiche rechtliche Frage unterschiedlich beurteilen, ist anregend und lehrreich. Es erweitert den juristischen Horizont und hält der eigenen, schweizerischen Rechtswelt den Spiegel vor. Ich sehe in der Internationalität demnach keine Schwierigkeit, sondern eine Bereicherung.

Viele unserer Fälle haben in der Tat eine internationale Komponente. Flavio Romerio

Die Juristerei ist von Komplexität und Stress geprägt. Wie behalten Sie einen kühlen Kopf?

Ich bin seit fast 30 Jahren als Anwalt tätig. Bei derart langer Berufstätigkeit erlebt man zwangsläufig vieles. Man erwirbt einen tiefen Erfahrungsschatz, der hilft, Vorkommnisse in einen grösseren Kontext zu stellen. Einzelne Rückschläge, die immer wieder auftreten, werfen einen nicht so schnell aus der Bahn. Ein weiterer Punkt: Ich arbeite praktisch nie allein. Wir arbeiten meist in einem divers zusammengesetzten Team, das sich gegenseitig stützt, unterstützt und anspornt. Dieser Team-Spirit hilft, Schwierigkeiten und Stresssituationen zu meistern.

Sie gelten als einer der führenden Schweizer Anwälte. Setzt Sie dieser Status auch manchmal unter Druck?

Nein. Es geht mir nicht um meine Person. Für mich stehen unsere Klienten im Vordergrund. Und da ich der Managing Partner unserer Kanzlei bin, ist für mich auch das Wohlergehen unserer Mitarbeitenden und der gesamten Kanzlei ein zentraler Fokus.

Sie leiten ein Team von rund 30 Anwälten und Paralegals. Was ist Ihnen im Bereich Leadership besonders wichtig?

Ich versuche stets, den Fokus auf unsere Klienten und das Verständnis für deren Geschäft und Erwartungen zu lenken. Und ich achte auf die Qualität und Effizienz unserer Arbeit.
Denn eine Anwaltskanzlei ist kein normaler, hierarchisch-organisierter Betrieb. Unsere Mitarbeitenden verfügen über Top-Abschlüsse, die meisten haben eine internationale Ausbildung. Sie sind extrem motiviert und ambitioniert. Sie wollen jeden Tag aufs Neue Leistung bringen, lernen und gewinnen. Diese Mitarbeitenden muss man aufgrund ihrer hohen intrinsischen Motivation nicht führen, sondern auf ihrem beruflichen Weg begleiten, fordern und fördern.

Welche Ihrer Charaktereigenschaften helfen Ihnen dabei, ein guter Anwalt zu sein?

(lacht) In meiner Anwaltstätigkeit habe ich gelernt, dass die Fälle und Klienten sehr unterschiedlich sind. Und auch die Anwältinnen und Anwälte sind als Menschen sehr verschieden. Sie bieten eine breite Diversität an Fähigkeiten, Persönlichkeiten und Charakterzügen, gerade auch im Umgang mit Menschen oder wie man eine neue Situation anpackt. Je nach den Anforderungen eines Mandats brauchen Sie einen anderen Typ Anwalt. Das sehe ich auch in unserer Kanzlei: Einer unserer Partner etwa ist ausgeprägt analytisch und findet jeden potentiellen Fallstrick, ein anderer ist besonders stark bei strittigen Auseinandersetzungen.

In meiner Anwaltstätigkeit habe ich gelernt, dass die Fälle und Klienten sehr unterschiedlich sind. Flavio Romerio

Ich bringe bestimmt ein starkes analytisch-strategisches Denken mit. Ich kann über rechtliche Themen hinausdenken, suche das Gesamtbild und nicht nur die rechtliche Fragestellung. Auch bin ich sehr neugierig. (lacht) Mich interessiert das Geschäft der Klienten. Ich versuche sie zu verstehen, was sie tun, wo ihr Fokus liegt und wo sie hinwollen.

Ein junger Mensch entscheidet sich für eine Karriere in der Juristerei. Welche Ratschläge geben Sie?

Als erstes würde ich zum Entscheid gratulieren. (lacht) Ich selber habe den Entscheid, Anwalt zu werden, nie bereut und finde meinen Beruf immer noch spannend und anregend.

Das Recht ist ein dynamisches Fach, das sämtliche Lebensbereiche erfasst. Dabei ist Jus kein Zweck in sich selbst, es gibt kein Recht für das Recht. Es ist das Öl für das Funktionieren der Gesellschaft und der Wirtschaft. Und darum ist mein Ratschlag, dass junge Juristinnen und Juristen neugierig sein sollen, aber nicht nur auf das Recht, sondern auch auf die Welt rund um uns. Weil das Recht da ist für die Gesellschaft, die Wirtschaft und um soziale und wirtschaftliche Probleme zu lösen.

Das Recht ist ein dynamisches Fach, das sämtliche Lebensbereiche erfasst. Flavio Romerio

Das Zweite ist: Ich empfehle, sich in den rechtlichen Bereich zu vertiefen, der besonders interessiert und motiviert. Wer sich etwa für den Schutz der Umwelt einsetzt, gehört ins Umweltrecht. Wer sich für IT und Digitalisierung interessiert, kann sich dort spezialisieren.

Und: Man sollte das Studium wirklich ernst nehmen. Es ist ein Privileg. Und man muss sich vor Augen halten, dass ein herausragend gefüllter juristischer Rucksack beim Berufseinstieg sehr wichtig ist.

Bei alledem muss man sich bewusst bleiben, dass Rechtskenntnisse alleine nicht genügen, um ein erfolgreicher Jurist zu werden. Man muss weitere Aspekte unserer beruflichen Tätigkeit berücksichtigen und dafür nötige Fähigkeiten entwickeln. Das betrifft zum Beispiel Sprachkenntnisse, Storytelling und auch zwischenmenschliche Fähigkeiten. Auch die IT und Digitalisierung sind in unserem Beruf extrem wichtig. Persönlich bin ich überzeugt: Wenn man die neuartigen IT-Tools nicht beherrscht, kann man in Zukunft kein erfolgreicher Anwalt mehr sein.

Aus diesen Gründen muss man seinen persönlichen Horizont vom Recht auf eine Reihe anderer Disziplinen erweitern. Aber genau diese Themenbreite und Dynamik machen unseren Beruf derart spannend und attraktiv.

Welchen Moment würden Sie als Ihren grössten professionellen Erfolg bezeichnen?

Als Anwalt erlebt man zwangsläufig relativ viele Niederlagen. (lacht) Deshalb richte ich meine persönliche und berufliche Zufriedenheit nicht nur darauf aus, ob wir einen Fall gewonnen haben oder nicht. Für mich stehen andere Kriterien im Vordergrund.

Wie war unser Impact? Konnten wir unseren Klienten helfen? Haben wir herausragende anwaltliche Dienstleistungen erbracht? Das Vertrauen, das uns von Klienten geschenkt wird, gehört zu den schönsten Seiten unseres Berufes. Es zu gewinnen und dann zu erhalten, ist für mich der grösste Erfolg in unserem Beruf.

Wenn ich auf die letzten 30 Jahren zurückschaue, durfte ich viele spannende Mandate erleben und inspirierende Menschen aus allen Gesellschaftsschichten kennenlernen. Dafür bin ich sehr dankbar. Wenn ich aber einen Fall auswählen müsste, wäre es der Fall der nachrichtenlosen Holocaustgelder, den ich anfangs erwähnt habe. Dieser Fall hatte eine einmalige Bandbreite an politischen, rechtlichen und historischen Themen.
Unsere Klienten hatten ihre Geschichte während Jahren akribisch aufgearbeitet und am Schluss einen Milliardenbetrag zu einer Lösung beigesteuert. Gleichwohl haben sich die Beteiligten am Ende noch mehr auseinandergelebt. Eine Versöhnung blieb aus, und das Ergebnis hat zu viele nicht zufrieden gestellt. In diesem Sinne war es kein «Erfolg». Für mich persönlich war es trotzdem einer der prägendsten und bemerkenswertesten Fälle, die ich je betreuen durfte.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten in der Zeit zurückreisen; welche berufliche Entscheidung würden Sie anders treffen?

Diese Antwort ist kurz: keine. (lacht) Ich bin sehr zufrieden mit meiner Berufswahl. Ich freue mich täglich über meine Arbeit und unsere Klienten.

Seit 1995 bin ich in unserer Anwaltskanzlei tätig und sitze also schon sehr lange auf dem gleichen Bürostuhl. Ich bin auf diesem Stuhl sitzen geblieben, weil er in einem Umfeld steht, das ich ausserordentlich schätze, vor allem auf menschlicher Ebene. Hier arbeiten Anwälte, die Freunde geworden sind. Viele sind Vorbilder und eine Inspiration. Ich empfinde es als grosses Privileg, gemeinsam mit diesen Freunden unseren Beruf ausüben zu können. Deshalb würde ich mich nicht anders entscheiden.

Was machen Sie, wenn Ihre persönliche Ethik und das Berufsleben aneinandergeraten? Kommt das vor?

Mir persönlich ist das noch nie widerfahren. Aber es kann passieren. Dabei muss man die gesellschaftliche Rolle des Anwalts sehen: Er wird beigezogen, um die Interessen von Klienten in Verhandlungen oder vor Behörden zu vertreten; er ist deren rechtliches Sprachrohr. Der Anwalt ist da, um Klienten auch in Krisen zu unterstützen und deren rechtliche Probleme zu lösen. Voraussetzung bleibt, dass das Vorhaben der Klienten rechtlich zulässig und vertretbar ist. Man muss deshalb stets zwischen Anwalt und Klient unterscheiden und die Rolle und Funktion des Anwalts in unserem Rechtsstaat sehen.

Persönlich unterstütze, aber urteile ich nie über unsere Klienten. Das ist nicht meine Aufgabe. Klienten kommen zu uns, weil sie Hilfe und Unterstützung suchen. Sie brauchen in ihrem Anwalt nicht noch jemanden, der ihnen sagt: «Das war nicht gut». Das tun schon andere. Wir sind da, um eine positive Sicht und den Blick nach vorne einzubringen und Lösungswege aufzuzeigen.

Gibt es Fälle, die Sie nicht übernehmen würden?

Ja, die gibt es. Aber es gab vorgelagerte Entscheidungen auf meinem beruflichen Weg, die dafür sorgten, dass ich gar nicht erst an diesen Punkt gelange. Beispielsweise möchte ich nicht Personen vertreten, die Gewaltdelikte gegen andere Menschen verübt haben. Das ist für mich eine persönliche Grenze.

Dennoch halte ich es für wichtig und richtig, dass es Anwälte gibt, die das tun, weil auch Gewalttäter vor Gericht eine anwaltliche Vertretung verdient haben. Aber einfach nicht von mir.

Ich kann als Anwalt die Interessen der Klienten am besten vertreten, wenn ich von den Klienten und dem, was sie sind und tun, auch persönlich überzeugt bin. Wenn ich einen Standpunkt vertreten soll, an den ich selber nicht glaube, kann ich nicht glaubwürdig sein. Und wenn ich das Gefühl habe, nicht glaubwürdig zu sein, bin ich als Anwalt nicht effektiv.

Persönlich unterstütze, aber urteile ich nie über unsere Klienten. Flavio Romerio

Haben Sie je in Betracht gezogen, etwas anderes zu machen?

Das ist eine gute Frage. (lacht) Mit zwölf wurde ich in ein katholisches Internat des Benediktinerordens geschickt. Ein Internatsfreund und ich haben uns überlegt, was wir werden wollen, wenn wir aus dem Internat wieder rauskommen. Von einer Berufsberatung haben wir ein Paket mit Unterlagen zu verschiedenen Berufen erhalten. Diese haben wir sorgfältig studiert und diskutiert, bis wir mit 14 den Entschluss gefasst haben, Juristen zu werden. Und beide sind wir Jahre später tatsächlich Anwälte geworden.

Was machen Sie an einem ruhigen Sonntagmorgen?

Am Sonntagmorgen gibt es einen ruhigen und einen nicht so ruhigen Teil. (lacht) Im ruhigen Teil bin ich passionierter Leser, vor allem auch Zeitungsleser. Aber sobald die Familie aufsteht – wir haben drei Kinder – ist es zum Glück vorbei mit der ruhigen Zeit.

Mit zwölf wurde ich in ein katholisches Internat des Benediktinerordens geschickt. Flavio Romerio

Was würden Sie noch gerne lernen?

Ganz viel, und ich freue mich sehr darauf. Ich würde gerne besser Gitarre spielen können, denn ich erziele kaum Fortschritte. Auch besseres Italienisch und einige Windsurfmanöver sind geplant.

Gibt es etwas Spezifisches, was Sie gerne auf der Gitarre meistern möchten?

Das Gitarrensolo von «Stairway to Heaven». (lacht) Ich scheitere immer wieder daran. Eines Tages möchte ich das können.

Interview Fatima DiPane

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