Die Digitalisierung macht auch vor der Rechtsbranche nicht halt. Denn KI, Cloudcomputing und Co. führen nicht nur zu neuen juristischen Fragestellungen, sondern verändern potenziell auch die Art und Weise, wie Anwaltskanzleien operieren. Wie weitreichend ist LegalTech und welche Rolle spielt der Faktor Mensch im Rechtswesen der Zukunft?
Die Rechtsbranche gilt, zumindest was ihre eigenen Abläufe und Werkzeuge betrifft, allgemein als innovationsarm. Das verwundert nicht: Das juristische Handwerk bestand schon immer (und besteht noch heute) gemäss Fachleuten zu grossen Teilen aus der Recherche von Wissen, der Interpretation von Rechtsfragen sowie dem Aufbereiten von Argumenten. Und diese Arbeit wird seit jeher auf die mehr oder weniger gleiche Art und Weise erbracht. Der Drang in diesem Sektor, die neusten digitale Technologien sowie disruptive Ansätze zu nutzen, war dementsprechend klein.
Mit Vorstössen wie dem Projekt «Justitia 4.0» dürfte sich diese Ausgangslage allerdings merklich wandeln: Das Projekt zielt darauf ab, die heutigen Papierakten in der Schweizer Justiz durch elektronische Dossiers zu ersetzen und die elektronische Kommunikation zwischen Verfahrensbeteiligten und Justizbehörden zu fördern. Verfahrensbeteiligte sollen in Zukunft die zentrale Plattform «Justitia.Swiss» für den elektronischen Rechtsverkehr sowie die Akteneinsicht nutzen. Mit der Justizakte-Applikation soll zudem sichergestellt werden, dass Justizbehörden elektronische Akten effizient verwalten, bearbeiten und übermitteln können. Das Projekt wird von den Gerichten, den Staatsanwaltschaften sowie der Anwaltschaft gemeinsam getragen. Kurzum: Die Digitalisierung im Rechtswesen ist kein mögliches Szenario mehr, sondern ein klares Ziel. Das Jahr 2025 gilt als frühstes Umsetzungsdatum.
Mehr Effizienz – aber auch mehr Fragezeichen
Weit weniger klar ist für die meisten Kanzleien hingegen, wie sie sich auf die neuen Anforderungen einstellen sollen – und welches Potenzial moderne Legaltech-Anwendungen und insbesondere KI für ihre Arbeit haben dürften. Ayisha Piotti, Direktorin für AI Policy am Zentrum für Recht und Wirtschaft der ETH Zürich, bezieht in einem Beitrag des ETH Zukunftsblogs klare Position: «Anwaltskanzleien und Gerichte werden in Zukunft effizienter arbeiten und repetitive Aufgaben automatisieren können», schreibt sie. Der heute notorische Rückstau an Fällen bei Gerichten werde dadurch hoffentlich verringert. Schon würden KI-gestützte Systeme von Juristinnen und Juristen eingesetzt, beispielsweise um grosse Datenmengen zu analysieren und Verträge zu prüfen. Und einige Gerichte in den USA setzen KI-Systeme bereits ein, um sie bei Entscheidungen der Strafzumessung zu unterstützen oder die Rückfallgefahr von Straffälligen vorauszusagen.
Allerdings habe dies laut der Expertin auch eine Kehrseite: Als möglichen Fallstrick führt Piotti die Tatsache an, dass die Algorithmen der KI häufig nicht transparent genug seien, um die hohen Anforderungen der Rechenschaftspflicht in der Justiz zu erfüllen. Ferner befürchten Kritikerinnen und Kritiker, dass KI-Systeme Voreingenommenheit und Diskriminierung in der Rechtsprechung verstärken könnten. Denn die Zuverlässigkeit von KI-Systemen hängt von der Qualität der eingegebenen Daten ab, führt die Direktorin aus. Wenn KI-Unterstützungssysteme also auf der Grundlage von voreingenommenen Daten trainiert werden, könne dies zu ungerechten Gerichtsurteilen führen. Welchen Lösungsansatz gibt es für diese Problematik? Auch hierzu liefert Ayisha Piotti aufschlussreiche Gedanken: «Um solche unbeabsichtigten Folgen zu minimieren, muss man KI-Systeme zwingend rigoros testen, bevor man sie einsetzt.» Ausserdem brauche es neue regulatorische Leitlinien.
Der Faktor Mensch bleibt wesentlich
Trotz der rasanten Fortschritte im Bereich KI: Wer sich mit Anwältinnen und Anwälten unterhält, merkt schnell, dass niemand davon ausgeht, dass menschliche Juristinnen und Juristen in absehbarer Zeit ersetzt werden können. Denn während KI-Anwendungen durchaus in der Lage sind, komplexe rechtliche Analysen durchzuführen und enorme Datenmengen in kürzester Zeit zu verarbeiten, fehlt ihnen die Fähigkeit, auf der zwischenmenschlichen Ebene zu agieren. Gerade im Rechtswesen ist es aber entscheidend, nicht nur Fachwissen zu vermitteln, sondern auch Mandantinnen und Mandanten emotional abzuholen, ihre individuellen Bedürfnisse zu verstehen und sie durch oft schwierige sowie belastende Phasen zu begleiten. Diese Empathie und das Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen können letztlich nur andere Menschen aufbringen und zum Tragen bringen. So bleibe die persönliche Beziehung ein unverzichtbarer Bestandteil der Rechtsberatung, den keine Maschine ersetzen kann.
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