Interview von Linda Carstensen

Daniel Jositsch: «Das grösste Problem im Strafrecht ist, dass es in letzter Zeit stark verpolitisiert wurde»

Der Politiker und Professor für Strafrecht an der UZH spricht über sein schlimmstes Delikt und erklärt, worin die Schwächen im Schweizer Rechtssystem liegen.

Daniel Jositsch ist ein bekannter Schweizer Politiker, aber auch Strafrechtsprofessor. Im Interview mit «Fokus» erzählt er von seiner schlimmsten Straftat und spricht über die Schwächen des Schweizer Rechtssystems.

Daniel Jositsch, Sie sind Professor für Strafrecht. Was ist die schlimmste Straftat, die Sie selbst je begangen haben?

Ich glaube, es war tatsächlich ein Strassenverkehrsdelikt. Anscheinend bin ich relativ harmlos.

Haben Sie etwas daraus gelernt?

Danach habe ich versucht, ein weiteres Verkehrsdelikt zu vermeiden. Die Strafe hat also eine gewisse Wirkung, weil man in Zukunft Bussen vermeiden will.

Das Schweizer Rechtssystem ist sehr komplex und für Laien schwer verständlich. Zudem sind die Kosten für Rechtsstreitigkeiten oft sehr hoch und die Resozialisierung von Straftäter:innen wird häufig als unzureichend kritisiert. Was ist in Ihren Augen die grösste Schwäche des Schweizer Rechtssystems?

Es kommt definitiv auf das Rechtsgebiet an. Das grösste Problem im Strafrecht ist, dass es in letzter Zeit stark verpolitisiert wurde. Man müsste sich immer die Frage stellen, was man mit dem Strafrecht erreichen will und kann. Stattdessen wird das Strafrecht für politische Zwecke missbraucht – beispielsweise das revidierte Sexualstrafrecht. Wie viele andere strafrechtliche Revisionen stellt es keine Verbesserung in der Rechtspraxis dar. Vielmehr wird politisch und polemisch darüber diskutiert.

Das revidierte Sexualstrafrecht

Am 1. Juli 2024 trat das neue Sexualstrafrecht mit der neuen Definition der Vergewaltigung in Kraft. Im Zentrum der Gesetzesänderung steht die Ausweitung der zuvor geltenden Tatbestände der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung. Nach dem früheren Recht lag eine Vergewaltigung oder eine sexuelle Nötigung nur dann vor, wenn das Opfer zu sexuellen Handlungen genötigt wurde, das heisst, wenn der Täter es bedrohte oder Gewalt ausübte. Künftig ist diese Voraussetzung nicht mehr nötig. Neu liegen ein sexueller Übergriff und eine sexuelle Nötigung bereits dann vor, wenn das Opfer dem Täter durch Worte oder Gesten zeigt, dass es mit der sexuellen Handlung nicht einverstanden ist, und dieser sich vorsätzlich über den geäusserten Willen des Opfers hinwegsetzt. Als Zeichen der Ablehnung gilt neben Worten und Gestern auch der Schockzustand des Opfers, das sogenannte Freezing. Zudem umfasst der Tatbestand der Vergewaltigung nicht mehr nur den Beischlaf, sondern auch beischlafähnliche Handlungen, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind – und damit deutlich mehr sexuelle Handlungen als vor dem 1. Juli.

Was bedeutet das für uns als juristische Laien?

Für die Gesellschaft ist es grundsätzlich nicht gut. Man versucht mit Strafrecht fast jedes Problem zu lösen, obwohl es sich so nicht lösen lässt. Das führt dazu, dass man immer mehr Strafrecht will, um bestimmte Um- oder Zustände wirkungsvoller bekämpfen zu können. Dabei wird nicht dort angesetzt, wo sich die Ursachen des Problems befinden.

Und wie könnte man das verbessern?

Man müsste sich nach einer gewissen Zeit die Frage stellen, ob das neue Strafrecht etwas gebracht hat. Dann würde man feststellen, dass es nichts gebracht hat. Und man müsste sich die Folgefrage stellen: Was kann man sonst noch tun? Es gibt selbstverständlich zu viele Vergewaltigungen in der Schweiz. Man kann einerseits die Strafe erhöhen und hoffen, dass es dadurch weniger Vergewaltigungen gibt, was in der Praxis aber nicht der Fall ist. Aber man sollte sich fragen: Was sind die Ursachen für die vielen Vergewaltigungen? Das wäre der richtige Weg. Aber das ist eine viel schwierigere Diskussion. Und sie ist unbequem.

Welche aktuellen Trends und Herausforderungen bewegen die Rechtsbranche?

Der Finanzplatz und die Geldwäscherei werden immer wieder heftig diskutiert. Geldwäscherei ist seit 34 Jahren verboten, trotzdem wird heute mehr Geld gewaschen als vor 30 Jahren. Auch hier gilt: Man denkt nicht wirklich darüber nach, wie man das Problem lösen kann. Ansonsten wären wir heute nicht hier. Das sieht man zum Beispiel auch beim Drogenhandel. Der Drogenkonsum wird seit Jahrzehnten immer stärker mit Strafrecht bekämpft und die Wirkung ist gleich null. Es gab noch nie so viele Drogen im Umlauf, noch nie gab es so viele Drogenkonsumentinnen und -konsumenten. Wenn alles illegal ist, ist auch die Qualität katastrophal, was wiederum das Gesundheitssystem überlasten kann. Polizisten und Polizistinnen auf der ganzen Welt bekämpfen den Drogenhandel – und das braucht enorm viele Ressourcen. Ich bin davon überzeugt, dass, wenn Drogen legalisiert würden, die Kosten und Schäden massiv geringer wären.

Man müsste sich immer die Frage stellen, was man mit dem Strafrecht erreichen will und kann. Stattdessen wird das Strafrecht für politische Zwecke missbraucht – beispielsweise das revidierte Sexualstrafrecht. – Daniel Jositsch

Und was ist mit KI?

An der UZH ist KI ein Thema, weil Studierende zum Teil ihre Arbeiten von KI-Tools schreiben lassen und Plagiate ein Problem werden. Juristische Fälle mit KI zu lösen, das ist praktisch noch nicht möglich. Ich glaube auch nicht, dass das ein grosses Thema sein wird. Tools im Unterricht einzusetzen, um zu Hause Übungen zu machen, das wäre sinnvoll. Ich selbst brauche keine KI im Alltag.

Ihr Spezialgebiet ist das Strafrecht. Gibt es im Moment einen Fall, der Ihnen den Schlaf raubt?

Um mir den Schlaf zu rauben, braucht es schon ein bisschen mehr (lacht). Das Geldwäschereigesetz wird wegen des internationalen Drucks gerade revidiert. Bringen wird es aber nichts.

Gesetzgebung zur Geldwäscherei

Der Bundesrat will neue Massnahmen zur Bekämpfung von Geldwäscherei einführen. Bereits im Mai 2024 präsentierte er einen entsprechenden Gesetzesentwurf. Dieser sieht vor, dass Anwälte, Notare und Treuhänder künftig mehr tun müssen, um Geldwäscherei in der Schweiz zu verhindern. Ein ähnlicher Vorstoss ist bereits vor drei Jahren im Parlament gescheitert. Der Bundesrat will zudem ein gesamtschweizerisches Transparenzregister für Unternehmen und Stiftungen einführen. Dieses Register soll in erster Linie den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung stehen – und nicht der Öffentlichkeit und Medien.

Frustriert Sie das?

Frustriert ist übertrieben. Aber es kommt mir so vor, als ob ein Patient ins Spital kommt, ein Medikament nimmt, es nicht besser wird und dann einfach die Dosis erhöht wird.

Gab es einen Fall, der Sie mal annähernd frustriert hat?

Ich habe einmal ein Gutachten über die Hells Angels erstellt. Die Bundesanwaltschaft hat ein Verfahren gegen sie geführt und behauptet, sie seien eine kriminelle Organisation. Eigentlich hat man vom Schiff aus gesehen, dass sie das nicht sind. Und sie waren monatelang in diesem Verfahren gefangen.

Welches ist die schwerwiegendste Straftat im Schweizer Strafrecht?

Mord. Oder Kriegsverbrechen, aber diese kommen in der Schweiz kaum vor.

Warum ist das so?

Das ist auf die gesellschaftliche Wertung zurückzuführen. Einen anderen Menschen aus niederen Beweggründen umzubringen, ist der schwerste Eingriff in ein menschliches Leben. Darum gibt es auch mindestens zehn Jahre Freiheitsstrafe bis lebenslänglich. Aber das entscheidet der Richter oder die Richterin im Einzelfall. Das Gesetz schreibt nur eine Zeitspanne vor.

Noch zwei Fragen zu Ihrer Person: Wollten Sie schon immer Politiker werden?

Nein, eigentlich nicht. Die Politik hat mich generell interessiert. Aber die wenigsten Menschen werden politisch aktiv, weil sie es wollen. Es ist kein Berufsziel, wie zum Beispiel einige Menschen zum Beispiel Zahnärzte werden wollen. Man fängt irgendwo an und dann entwickelt sich das – oder eben nicht. Politiker zu sein, habe ich letztlich in der Praxis gelernt.

Ist es ein Traum von Ihnen, Bundesrat zu werden?

Nein. Erstens kann ich es nicht mehr werden, weil ich in acht Jahren zu alt sein werde, wann möglicherweise die nächste Gelegenheit entstehen würde. Aber wenn man in die Situation kommt, in der es möglich ist, dann macht man es. Ich bin aber ganz froh, dass ich nicht Bundesrat bin. So kann ich mehr Freiheiten geniessen.

Danke für das Gespräch, Daniel Jositsch.


Weitere Informationen zur Person: jositsch.ch

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04.10.2024
von Linda Carstensen
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