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Digitalisierung Nachhaltigkeit Bau & Immobilien

Den Kreislauf durch Materialpässe in Schwung bringen

16.12.2021
von Kevin Meier

Die Digitalisierung bringt ungeahnte Möglichkeiten in allen Branchen. Insbesondere in Sachen Nachhaltigkeit eröffnen sich grosse Optimierungspotenziale. Will der Bausektor in Richtung Kreislaufwirtschaft schreiten, braucht es eine neue Art von Rohstoffmanagement. Materialpässe stellen einen ersten Schritt in eine zukünftige Zirkularität dar.

In den Statistiken der EU über die Entstehung von Abfällen entfällt über ein Drittel auf den Bausektor. 2014 entsprach dies rund 38 Prozent des gesamten Abfallvorkommens in der Europäischen Union. Auch in der Schweiz sind Bauabfälle von der Menge betrachtet die grösste Abfallkategorie. Ein Ansatz, um nachhaltiger zu wirtschaften, sind Materialpässe. Analog zu einem Pass für Menschen ist die Idee, dass den Baumaterialien auf diese Weise eine Identität verliehen wird. «So wird verhindert, dass sie als Abfall in der Anonymität verschwinden», erklärt der Architekt und Mitgründer von Madaster, Thomas M. Rau. Die Plattfrom Madaster ist ein Tool, das Materialpässe bereitstellt, welche die Identifikation und digitale Datenaufbewahrung des Baumaterials sowie dessen Wert und Wiederverwendungsmöglichkeiten nachvollziehbar und zugänglich machen.

Durch Transparenz nachhaltiger

Materialpässe enthalten Informationen zu verbauten Materialien und Produkten sowie Angaben über deren Standort im Gebäude, der Wiederverwendbarkeit, der Toxizität und des CO2-Fussabdrucks. Einen übergreifenden Standard gibt es jedoch nicht und einige Lösungen enthalten, wenn verfügbar, tiefergehende Angaben. Marloes Fischer, die Geschäftsführerin von Madaster Services Schweiz, erklärt, dass Madaster beispielsweise «Daten und Dokumente der Materialisierung im gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes darstellt», inklusive Informationen zur Validierung gesetzter Ziele. In der heutigen Welt werden Bauten zwar für einen Zeitraum von über 80 Jahren geplant, vor dem Fälligkeitsdatum aber meist zurückgebaut oder renoviert. Laut Fischer unterstützen Materialpässe sowohl Wandelbarkeit als auch die Wiederverwendung: «Flexibilität muss in die Gebäudekonzeption einbezogen werden. Materialpässe unterstützen diesen Gedanken, weil immer klar ist, was, wo und wie verbaut wurde.»

Potenziale erkennen und ausschöpfen

Wie eingangs erwähnt, besteht im Bausektor eine enorme Reserve, um Ressourcen einzusparen, Abfälle zu vermeiden, den Energieverbrauch niedrig zu halten und damit auch Baukosten zu verringern. «Die Potenziale existieren an vielen Stellen: bei der Planung, der Produktion sowie dem Einsatz von erneuerbaren Rohstoffen oder recyceltem Baumaterial, bei der Reduktion des Bedarfs und der Energieeffizienz», lässt sich Fischer zitieren. Zudem könne die Lebensdauer durch vorausschauende Wartung verlängert werden und das Upcycling von End-of-Life-Material werde vereinfacht. Ziel ist, Entscheidungsgrundlagen für Planende und Unternehmen bereitzustellen, indem alle Phasen abgebildet werden und die Informationen strukturiert einsehbar sind. Von Designer:innen über Immobilienbesitzende und die öffentliche Hand bis zu Materialmarktplätzen. Fischer erläutert, dass alle Beteiligten profitieren: «Durch einen Materialpass ergeben sich Mehrwerte für alle Stakeholder in der Bau- und Immobilienwirtschaft.»

Das Konzept der Kreislaufwirtschaft ist in der Baubranche angekommen und stösst auf Interesse. Marloes Fischer

Auch bei bestehenden Bauten eine gute Idee

Materialpässe finden aber nicht nur bei neuen Projekten Anwendung. Genauso kann man auch für bereits erstellte Gebäude Materialien und deren Werte erfassen. Fischer verdeutlicht: «Gerade bei Bestandsbauten ist der Wert der Wiederverwendung erheblich.» Die verbauten Materialien, Komponenten und Produkte in Gebäuden können in Excel-Listen erfasst und in Madaster geladen werden. Alternativ und mit höherem Nutzen erstellt man mit State-of-the-Art-Technologie und Drohneneinsatz ein strukturiertes BIM-Modell. Derweil BIM nicht unbedingt eine Voraussetzung zur Erstellung von Materialpässen ist, resultieren daraus genauere Daten, eine effizientere Dokumentation sowie Auswertung und ein nachhaltigerer Umgang mit Ressourcen. Je detaillierter und vollständiger die Daten sind, desto aussagekräftiger wird der Materialpass.

Schritte im Kreis

Durch die Identifikation der «Inhalte» verwandeln sich Gebäude in Materiallager und werden Teil eines Kreislaufs. Um die Kreislaufwirtschaft konkret voranzutreiben, beinhaltet die Plattform von Madaster einen Zirkularitätsindex, der an die Arbeiten der EllenMcArthur Foundation angelehnt ist und stetige Aktualisierungen durchläuft. Der Wert der Zirkularität gibt Fischer zufolge den Grad der Kreislauffähigkeit wieder: «Es werden Angaben über Herkunft (Input), die Nutzung (Use) und die zukünftige Verwertung (Output) der Materialien ausgewertet.» Diese Daten ermöglichen, dass Rohstoffe und Produkte ideal genutzt werden und am Ende ihrer Lebensdauer unkompliziert in einen Markt von vorhandenen Materialien eintreten.

«Das Konzept der Kreislaufwirtschaft ist in der Baubranche angekommen und stösst auf Interesse», lässt Fischer verlauten. Allerdings erfordert diese zukünftige Art des Wirtschaftens einen hohen Grad an Zusammenarbeit und Kooperationen. Diese Dynamiken sind neu und werden in konkreten Bauprojekten ausprobiert. Das Potenzial ist aber bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Dabei würden alle davon profitieren: die gesamte Bau- und Immobilienbranche, die Gesellschaft und die Umwelt.

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