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Editorial Familie

Der historische Wandel des Konzepts «Familie»

04.02.2022
von SMA
Dr. Philippe Gnaegi, Direktor von Pro Familia Schweiz

Dr. Philippe Gnaegi,
Direktor von Pro Familia Schweiz

Zu Beginn der Menschheitsgeschichte gab es keine soziale Absicherung im heutigen Sinn des Wortes. Die Familie war verantwortlich für die Entstehung von Grundwerten der menschlichen Existenz: Sie leistete Schutz gegen Armut und war verantwortlich für gegenseitiges Wohlwollen und Solidarität (zum Beispiel bei Krankheit oder Unfall) oder für die Vermittlung von spezifischen Werten. In diesem Sinn erfüllten Familien eine wesentliche soziale und wirtschaftliche Funktion und leisteten einen grundlegenden Beitrag zur Absicherung jedes einzelnen Mitglieds. 

In der Schweiz erschienen im 18. und 19. Jahrhundert die ersten Gesetze zum Schutz von Frauen und Kindern. Im Zivilgesetzbuch von 1907 wurde festgehalten, dass der Ehemann das Haupt der ehelichen Gemeinschaft ist. Diese Bestimmung wurde erst Ende 1987 aufgehoben. Noch bis in die 1970er-Jahre bot der wirtschaftliche Aufschwung einen idealen Nährboden für die bürgerliche Wahrnehmung der Familie mit dem Einernährermodell und der Ablehnung der Berufstätigkeit der Frauen. Auf Basis dieses bürgerlichen Familienmodells wurden die Sozialversicherungen aufgebaut. 

In den letzten Jahrzehnten prägten mehrere Entwicklungen das Familienbild: die Alterung der Bevölkerung, der Rückgang der Geburtenrate, die steigende Lebenserwartung, die späte Familiengründung, der Anstieg der Scheidungsrate, die Zunahme der beruflichen Qualifikationen (insbesondere der Frauen), die neuen Familienformen (zu den traditionellen Familien kamen Eineltern-, Patchwork-, Regenbogenfamilien und weitere Lebensgemeinschaften hinzu und erst vor Kurzem wurde der Ehe für alle zugestimmt). Zudem hat die Verantwortung der Familienmitglieder gegenüber älteren oder kranken Angehörigen an Bedeutung gewonnen, auch weil die Menschen länger leben. 

Der Begriff der Familie als solches ist nicht verschwunden und hat noch eine grosse Zukunft vor sich. Dr. Philippe Gnaegi

Seit circa 30 Jahren jedoch verändern das Recht auf Bildung für Frauen, die Forderungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf und zur Gleichstellung der Geschlechter den Fokus der Familienpolitik. In der heutigen Gesellschaft würden vermehrt gut ausgebildete Frauen mit Kindern im Arbeitsmarkt verbleiben, wenn bessere Rahmenbedingungen vorhanden wären (zum Beispiel eine qualitativ gute, für alle zugängliche und bezahlbare Kinderbetreuung). Parallel zur Vereinbarkeits- und Gleichstellungsthematik sind zwei weitere Bereiche in der Familienpolitik entstanden: die Politik der frühen Kindheit, welche die Wichtigkeit eines guten Aufwachsens unserer Kinder in den ersten Lebensjahren aufzeigt, sowie die Generationenpolitik, die den Austausch zwischen den zahlreicher gewordenen Generationen stärker in den Vordergrund stellen möchte.

Die Familie der Zukunft

Der Begriff der Familie als solches ist nicht verschwunden und hat noch eine grosse Zukunft vor sich. Er hat sich jedoch unter dem Einfluss der Gleichstellung der Geschlechter, den neuen Bedürfnissen des Arbeitsmarktes, der Erfüllung persönlicher Wünsche und der Entwicklung der Bildungslandschaft verändert.

Wir sind überzeugt, dass sich die Familie weiter in Richtung eines noch demokratischeren und egalitäreren Systems verändern wird, sowohl auf sozialer als auch auf wirtschaftlicher Ebene. Die Herausforderung wird darin bestehen, ein Gleichgewicht zwischen einer auf Individualismus und Leistung ausgerichteten Gesellschaft und der Solidarität über mehrere Generationen hinweg zu finden. Die öffentliche Hand kann zu diesem Gleichgewicht beitragen und sollte zu jedem Themenfeld minimale Rahmenbedingungen anbieten, doch die Verantwortung des einzelnen Familienmitglieds, besonders bezüglich Solidarität, bleibt zentral.

Die grösste Herausforderung liegt dabei in der Beseitigung von Vorurteilen und in der Überwindung von festgefahrenen ideologischen Denkweisen. Stereotypen müssen aufgeweicht werden, sowohl in der Familie als auch im Beruf und im schulischen Umfeld.

Text Dr. Philippe Gnaegi, Direktor von Pro Familia Schweiz, Aes Buches in Kooperation mit Nadine Hoch, Familienpolitik in der Schweiz, Schulthess Verlag, 2022

Eine Antwort zu “Der historische Wandel des Konzepts «Familie»”

  1. Häni Ursula sagt:

    NEIN

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