mon style conceptual interior room 3 d illustration
iStock/helmul75
Editorial Wohnen

Die Gestaltung des Wohnraums

30.05.2025
von SMA

Der Traum vom Zuhause ist ein fester Bestandteil unserer Kultur. Es ist der symbolische Ort der Zugehörigkeit und Sicherheit. Über Generationen hinweg bedeutet Wohnen, einen stabilen, klar definierten Raum zu besitzen – einen Raum, der Identität widerspiegelt und Intimität schützt.

Martina Palocci Portrait

Martina Palocci
Dipl. Arch. MSc. Arch. AAM, Gründerin von Studio Tropicana, Professorin an der University of Cincinnati, DAAP, OH, USA, Vorstandsmitglied VSI.ASAI

Heute jedoch beginnen jüngere Generationen, dieses Konzept infrage zu stellen. Studierende des Interior Design an der University of Cincinnati etwa haben Projekte entwickelt, die das Konzept der Stabilität selbst herausfordern. Sie fragen sich, ob es möglich sei, ohne sie zu leben; «Was geschieht mit dem Konzept ‹Zuhause› in einer sich ständig wandelnden Welt?»

Diese Fragestellungen setzen das Zuhause nicht länger als gegeben voraus – weder physisch noch emotional. Es wird zu einem kritischen und veränderlichen Zustand, geformt durch äussere Umstände.

Ein Capstone-Projekt von Kate Miller unter der Betreuung von Professorin Meghan Minton entwarf ein Wohnkonzept unterhalb einer stillgelegten Fabrik – ein unterirdisches Refugium, das sich in die Reste einer überholten Produktionswelt eingräbt. Dieser spekulative Raum war kein Traum, sondern eine Notwendigkeit: ein Schutzraum, entstanden aus Überbleibseln und Neuerfindung. Kein Ideal wurde gestaltet, sondern ein Ort, der aus der Not geboren wurde. Ein Zuhause, das weniger aus Mauern als aus Absichten bestand – bedarfsorientiert, anpassungsfähig, temporär, aber voller Leben.

Die Einrichtung ist kein starres Mobiliar, sondern ein raumaktivierendes Element.

Ein ebenso eindrückliches Bild entstand während einer Feldforschung in Süditalien, wo eine Person in einer Kapelle lebte. Die Szene war zugleich sakral und intim und zeigte, wie Notwendigkeit selbst die symbolträchtigsten Orte neu definieren kann. Orte passen sich an. Sie werden verwandelt, repariert, wieder bewohnt – selbst jene, die dem Gottesdienst dienten, öffnen sich neuen Alltagsritualen. Wohnen bedeutet heute oft: mit Respekt zurückzuerobern, zu erneuern, Leben zurückzubringen an scheinbar erstarrte Orte.

Auch auf globalem Massstab zeigt sich dieser Wandel. Immer häufiger wohnen Menschen dort, wo sie können – nicht, wo sie möchten. Wirtschaftliche Unsicherheit, prekäre Arbeitsverhältnisse, Klimakrisen und neue Mobilitätsmodelle machen Wohnen zu einer fluiden, ständig neu verhandelten Angelegenheit.

Das Zuhause gleicht einer Membran: eine dünne, durchlässige Oberfläche, auf der alles gleichzeitig geschieht. Die klaren Grenzen, die früher den Alltag und soziale Rollen strukturierten, sind verschwunden. Arbeit, Ruhe, Austausch und Rückzug existieren nun nebeneinander – die häusliche Sphäre ist zu einem hybriden Zustand geworden.

Diese Transformation hat sich während der Pandemie drastisch beschleunigt. Die erzwungene Isolation hat unser Verhältnis zum Raum neu definiert. Sport, Arbeit, Kochen, Videokonferenzen – all das fand innerhalb derselben vier Wände statt. Doch es entstand auch ein neues Bewusstsein: Die Grenzen des Raums wurden spürbar, aber auch sein verborgenes Potenzial.

In vielen europäischen Städten ist die Wohnkrise eine gemeinsame Realität: Die Mieten steigen, die Wohnflächen schrumpfen, der Zugang zu Wohnraum wird immer unsicherer. Neue und alte Modelle koexistieren: Co-Housing, Umnutzung von Industriegebäuden, modulare Mikrohäuser. Diese Lösungen sind nicht nur funktional, sondern Ausdruck eines tiefgreifenden kulturellen Wandels.

Räume werden zunehmend generationenübergreifend geteilt – Wandel wird kollektiv bewältigt.

Auch in der Schweiz werden neue Lösungen erprobt, die private und gemeinschaftliche Räume kombinieren oder bestehende Strukturen durch minimale Eingriffe transformieren. Das Phänomen der Genossenschaften, ein etabliertes Modell des gemeinschaftlichen Wohnens in der Deutschschweiz, spiegelt diesen Wandel wider.

Wohnen bedeutet heute nicht mehr, möglichst viel Fläche zu besitzen, sondern bedeutungsvolle Erfahrungen zu gestalten. Zusammenleben ist hier fliessend, Wandel wird erwartet. Eines der Leitprinzipien: Wenn sich die Bedürfnisse der Bewohner:innen ändern, wechseln sie in einen Raum, der ihrer aktuellen Lebensphase besser entspricht.

Diese Überlegungen manifestieren sich auch im Projekt Blue Bird Kitchen (BBK) von Studio Tropicana – eine ehemalige Scheune in Italien mit nur gut 60 Quadratmetern, umgewandelt in einen hybriden Wohnraum. Das Gebäude bewahrt zentrale Elemente eines Hauses – Küche, Bad, Wohnbereich – aber es gibt kein eigentliches Schlafzimmer. Doch selbst diese «Leere» wird zur Chance: Das Studio kann bei Bedarf zum Schlafraum werden.

Die Einrichtung ist kein starres Mobiliar, sondern ein raumaktivierendes Element: Sie ermöglicht wechselnde Choreografien, je nach «Aufführung» – Kochen, Arbeiten, Empfangen von Gästen , Ausruhen. Der Raum passt sich an, nimmt auf, wandelt sich. Er wird zu einer Art Bühne des häuslichen Lebens.

In diesem Sinne ist die Blue Bird Kitchen ein stilles Manifest unserer Zeit: Wohnen bedeutet nicht mehr nur zu besitzen, sondern zu interpretieren; nicht mehr zu haben, sondern sich im Raum nach eigenem Rhythmus und Bedarf zu bewegen.

Deshalb wurde der Raum in seinem leichtesten, leersten, fast flüchtigen Zustand fotografiert. Eine schwebende Umgebung, die keine Funktion vorgibt, sondern Möglichkeiten eröffnet. Sie bietet keine Antwort, sondern eine Frage: Was könnte hier geschehen? Diese Entscheidung wird zur Einladung – erst im Kopf zu entwerfen, dann in der Materie.

Heute steht Gestaltung für ­Flexibilität, Wandel und das Unerwartete.

Vor allem aber gestaltet sie für die Zeit – nicht für die Ewigkeit, sondern für den gelebten Moment. Das Zuhause wird zum Schauplatz von Transformationen, zum Ort ständiger Aushandlung zwischen Notwendigkeit, Wunsch und Machbarkeit.

Wohnen bedeutet heute nicht mehr nur, ein Dach über dem Kopf zu haben oder dem perfekten Eigenheim als Statussymbol hinterherzujagen. Vielleicht ist das Zuhause gar nicht mehr das Ziel, sondern das Medium, durch das wir uns entwickeln.

Es bedeutet, seine eigene Zeit zu gestalten, Räume zu bauen, die Wandel und Komplexität willkommen heissen. Es bedeutet, eine fluide Häuslichkeit zu pflegen – wo Identität nicht verwurzelt, sondern erneuert wird. Wo jeder Tag die Möglichkeit bietet, zu wählen, wer man sein will und wie man leben möchte.

Text Martina Palocci, Dipl. Arch. MSc. Arch. AAM, Gründerin von Studio Tropicana, Professorin an der University of Cincinnati, AAP, OH, USA, Vorstandsmitglied VSI.ASAI

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Vorheriger Artikel Philipp Heer & Isabelle Kade: Vom Blick fürs Detail zur grossen Reichweite
Nächster Artikel Virginia Maissen: «Was zählt, ist das Gefühl, das ein Raum auslöst»