Bild der Ausgrabungsstätte in Çatalhöyük, die die ersten Zuhause zeigt.
iStockphoto/FSYLN
Einrichtung Kultur Wohnen

Die (Neu-)Erfindung des Zuhauses

18.11.2022
von Kevin Meier

Lange Zeit waren die Ansprüche an das Zuhause stabil. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts  hat sich die Auffassung einer Durchschnittswohnung kaum verändert – bis jetzt. Ein Blick in  die Vergangenheit zeigt, wie die Konzeption der eigenen vier Wände schon immer von  sozioökonomischen und kulturellen Faktoren abhing und wie sie in Zukunft aussehen könnte.

Küche, Badezimmer, Schlaf- und Wohnzimmer. In dieser Art stellt man sich im globalen Norden das typische Heim vor. Schaut man in der Menschheitsgeschichte zurück, zeigt sich ein anderes Bild: vergleichbar und doch ungewöhnlich aus moderner Sicht. Äussere Umstände wie kulturelle Strömungen und wirtschaftliche Gegebenheiten haben immer schon grossen Einfluss darauf, wie die Menschen leben. Die derzeitigen Veränderungen könnten auf eine Angleichung an urgeschichtliche Behausungen hinauslaufen.

Die Archäologie auf den Spuren des ersten Zuhauses

Damit die Menschen überhaupt eine Wohnkultur nach unserem Verständnis entwickeln konnten, mussten sie erst sesshaft werden. Vor etwa 10 000 Jahren wurden der Ackerbau und die Viehzähmung in Vorderasien entdeckt, wodurch sich die Menschen dauerhaft niederliessen und permanente Siedlungen bildeten. Eines der ältesten Zeugnisse dieser Entwicklung ist die jungsteinzeitliche Proto-Stadt Çatalhöyük in der heutigen Türkei. Seit Jahrzehnten sind Archäolog:innen in Zentralanatolien den ersten Wohnungen auf der Spur. Die Befunde zeigen, dass hier erstmals Nachbarschaften und eine emotionale Bindung zum Daheim entstanden.

Bild der Ausgrabungsstätte in Çatalhöyük, die die ersten Zuhause zeigt.

Die Ausgrabungsstätte in Çatalhöyük. iStockphoto/FSYLN

Die über 9000 Jahre alte Stadt mit schätzungsweise 8000 Bewohnenden lässt eine übergeordnete Planung und erkennbare soziale Hierarchie vermissen. Im Inneren der Häuser erkennt man aber Züge, die auch heute noch zum Standard gehören: Einrichtung und Dekorationen. Spektrum Geschichte (01.22) berichtet, dass die Einraumwohnungen Kochstelle, erhöhte Schlafplattform sowie mehrere Schichten Putz an den Mauern aufwiesen. Die Böden waren mit gewobenen Schilfmatten ausgelegt, die Wände mit verputzten Tierschädeln und Wandmalereien verziert. Letztere bestanden aus abstrakten Mustern sowie Tier- und Menschenszenen. Überraschenderweise wurden die Motive regelmässig und immer gleich erneuert – und blieben so über Generationen erhalten.

Den Ahnen nahe

Ein aus moderner Sicht seltsam anmutender Fund ist, dass die Toten innerhalb der Häuser begraben wurden, zuweilen direkt unter der Erhebung, die vermutlich als Schlafplatz diente. Der Schluss liegt nahe, dass in einem Haus eine Kernfamilie lebte, die verstorbene Verwandte in den eigenen vier Wänden bestattete. Eine Untersuchung der Knochen ergab jedoch, dass bis auf eine Ausnahme die begrabenen Menschen keine biologische Verwandtschaft aufwiesen.

Denkbar, aber nicht erwiesen ist, dass die biologischen Eltern ihre Kinder schon früh nach der Geburt in eine Pflegefamilie gaben. Derartige Bräuche liessen sich auch in anderen Kulturen beobachten, in denen Verwandtschaft nicht nur eine biologische Tatsache, sondern ebenso ein soziales Konstrukt zu sein scheint. Möglicherweise experimentierte die Gesellschaft von Çatalhöyük mit neuen familiären Konstrukten, um Anmassung von Prestige und Reichtum in wenigen Kernfamilien zu verhindern oder um religiöse Bande zu stärken.

Die Anforderungen durch die Jahrtausende

In den darauffolgenden Jahrhunderten verbreitete sich die Landwirtschaft bis nach Europa, wo sie die Veränderungen anstiess, die zu unserer heutigen Wohnkultur führten. Anders als in Çatalhöyük bildeten sich bald soziale Schichten heraus: Für Wohlhabende wurden grössere, stabilere und sicherere Behausungen gebaut. Die öffentliche Sache wurde zu einer eigenen Organisationsstruktur, die Infrastrukturen errichtete und unterhielt wie beispielsweise die Wasserversorgung und Begräbnisse. Die wirtschaftlichen Tätigkeiten wurden immer kleinteiliger, bis schliesslich mit der Industrialisierung die Stunde der Mittelschicht anbrach. Diese Entwicklung hatte nachhaltigen Einfluss auf die klassische Vorstellung einer Wohnung. Fläche und Einrichtungen wurden für mehr Menschen erreichbar. Die Wohnräume erhielten spezifische Funktionen und wurden neu angeordnet und eingerichtet. Auf der Höhe der Mittelschicht in den 1950er-Jahren hatte das Zuhause für uns erkennbare Formen eingenommen: Einbauküche, Badezimmer mit Wasseranschluss, Schlaf-, Wohn- und allenfalls Ess- und Gästezimmer.

Das Bedürfnis nach Ressourcenschonung bringt neue Wohnkonzepte hervor.

Zurück zu den Anfängen?

Dieses Wohnkonzept verändert sich nicht von heute auf morgen radikal. Grosse Teile der Bevölkerung werden nach wie vor dieselben Anforderungen der letzten hundert Jahre an ihr Zuhause stellen. Doch das Modell steht von mehreren Seiten unter Druck: Die Digitalisierung und neue Arbeitsweisen verlangen nach multifunktionalen Räumen, der demografische Wandel erfordert mehr altersgerechten Wohnraum und die Nachhaltigkeit zwingt zu Downsizing. Insbesondere das Bedürfnis nach Ressourcenschonung bringt neue Konzepte hervor.

Third Place Living

Der Trend «Third Place Living» könnte das Einfamilienhaus und die Mietwohnung ablösen. Es beschreibt ein Konzept, in dem der Wohnraum auf ein Minimum an Fläche reduziert und gleichzeitig auf ein Maximum an Privatsphäre und Intimität erhöht wird. Das Sozial- und Arbeitsleben findet derweil am sogenannten dritten Ort der Öffentlichkeit Platz; neben Privatwohnung und Arbeitsplatz wandelt sich die Stadt zu einem Teil des Wohnraums. In gewisser Weise stellt dieses Konzept eine Rückkehr zu einer semi-nomadischen Lebensweise dar.

Co-Living

Eine Bewegung, die ebenfalls Ähnlichkeiten zur jungsteinzeitlichen Gesellschaft von Çatalhöyük aufweist, ist das Co-Living. Dabei leben Nicht-Familienmitglieder zusammen in einem Gebäude oder einer ganzen Siedlung mit gemeinschaftlich genutzten Räumen wie Küche, Ess- und Wohnzimmer bis hin zu Fitnessräumen sowie Co-Working-Spaces. Privat bleibt nur das eigene Schlafzimmer. Der Grundgedanke ist, einerseits wenig Fläche für sich selbst zu beanspruchen und andererseits in einer Gemeinschaft über die Familie hinaus zu leben. Gesellschaftliche Veränderungen lösen Experimente mit neuen Wohn- und Sozialkonzepten aus – wie in Çatalhöyük.

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