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Familie

Die Vision der Schule der Zukunft

04.02.2022
von Akvile Arlauskaite

Der berühmte Autor und Historiker Yuval Noah Harari behauptet, dass das, was unsere Kinder heute lernen,  bald bedeutungslos sein wird. Inwieweit an dieser Aussage etwas dran ist und wie das Schulsystem in Zukunft aussehen könnte, diskutierte «Fokus» mit einem Philosophen, der sich seit über einem Jahrzehnt diesem Thema widmet.

Bevor es die Schule gab, lernten Kinder das Wichtigste von ihren Eltern und verfolgten dann zumeist die gleiche Karriere. «Irgendwann erkannte man, dass für bestimmte Aufgaben spezialisierte Arbeitskräfte benötigt werden. So wurde das Schulsystem eingeführt – mit dem Ziel, Kinder durch Selektionsverfahren auf ihre zukünftige Funktion in der Gesellschaft vorzubereiten», erzählt Philosoph, Unternehmer, Redner und Schulgründer Diego De Nicola.

Arbeitsmarkt im Wandel

«Seither hat sich das System drastisch verändert. Dennoch lernen Kinder immer noch Dinge, die nicht nur zukünftig, sondern bereits heute oft unbedeutend sind.» Die Herausforderung sieht De Nicola im schnellen Wandel unserer Welt. «Von den heutigen Berufen werden in Zukunft nur etwa 20 bis 30 Prozent relevant bleiben. Es ist alles andere als sinnvoll, Kindern in der Schule spezifisches Grundlagenwissen für ihre spätere Karriere zu vermitteln, wenn wir nicht einmal die Anforderungen von Berufen kennen, die noch nicht existieren.»

Weiter rechnet De Nicola mit einem kontinuierlichen Wandel des Arbeitsmarktes: «Repetitive Arbeiten ohne Spassfaktor werden wo immer möglich automatisiert werden.» Das daraus resultierende Aussterben von Berufen sollte aber als eine Chance betrachtet werden: «Einerseits gibt dies uns die Freiheit, mehr davon zu tun, was uns als Menschen ausmacht, etwa in künstlerischen oder wissenschaftlichen Bereichen. Andererseits wird das Arbeitssystem neu definiert werden müssen. Möglicherweise müssen wir in Zukunft nicht mehr eine 40-Stunden-Woche leisten und haben dadurch einen höheren Lebensstandard. Dies setzt aber voraus, dass wir den Mut finden, das System neu zu überdenken», so De Nicola.

Ein mögliches Zukunftsszenario

«Früher war die Schule die Quelle des Wissens. Es war nötig, Informationen auswendig zu lernen, um sie später wiedergeben zu können. Inzwischen ist das Wissen durch das Internet praktisch universell zugänglich geworden. Deshalb sollte die Rolle der Schule nicht mehr auf die Wissensübermittlung limitiert bleiben», postuliert De Nicola. Die derzeitigen Lernmodelle basieren jedoch meist immer noch auf dem Auswendiglernen von Informationen nach einem standardisierten, strikten Schema. «Das Kind muss sich vollumfänglich den Vorgaben der Schule fügen. Passt es nicht in dieses vorgegebene Raster, wird es schwierig oder gar unmöglich, sein volles Potenzial zu entfalten», so der Philosoph. Insofern müsse sich die Schule von der Identität her komplett neu definieren.

«Kinder entwickeln sich von Anfang an in ganz unterschiedliche Richtungen. In einem ersten Schritt sollten wir als Erwachsene dies akzeptieren und Vertrauen in sie gewinnen», sagt De Nicola. Die Schule sollte ein personalisiertes Umfeld für das Kind bieten, um diese individuelle Entwicklung zu unterstützen. Dabei ist es gemäss De Nicola zentral, vom standardisierten Fächerdenken wegzukommen. 

Anstelle von fixen Fächern, in denen jedes Detail auswendig gelernt werden muss, wäre es sinnvoller, ein «Project-Based-Learning»-Schema zu verfolgen. Beschäftigt sich das Kind etwa mit einem Projekt zum Thema Nachhaltigkeit, fliessen automatisch andere Fächer mit ein, von Physik, Geologie und Mathematik bis hin zu Ethik und Deutsch. Durch das autonome Arbeiten an einem Thema erwirbt das Kind also auch Wissen aus anderen Feldern. «In diesem Schema muss sich auch die Lehrperson neu definieren. Sie ist nicht mehr hauptsächlich dazu da, um Wissen zu vermitteln. Vielmehr nimmt sie eine Mentorenrolle ein und unterstützt das Kind, das als Individuum im Vordergrund steht, bei der eigenständigen Lösungsfindung», erklärt De Nicola. Diese neue Rolle erfordere von den Lehrkräften Offenheit, Flexibilität und ein intrinsisches Interesse, sich selber stets weiterzuentwickeln.

In der Schule der Zukunft werden menschliche Charakteristika immer wichtiger.

Persönlichkeitsentwicklung im Fokus

In diesem Szenario nimmt die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes einen zentralen Stellenwert ein. In der Schule der Zukunft werden menschliche Charakteristika, die nicht durch Maschinen ersetzbar sind, immer wichtiger. «Wir müssen ein ‹Growth Mindset› fördern, um die angeborene Neugierde sowie das lebenslange Lernen zu unterstützen. Hierbei geht man davon aus, dass grundsätzlich alles für jede:n erlernbar ist – auch in Bereichen, die nicht zu den sogenannten Stärken des Kindes gehören», führt De Nicola aus.

Lernen sollte deshalb spannend sein und nicht nur mit Anstrengung assoziiert werden. Hierfür sei die Förderung von Neugierde, Kreativität und Selbstständigkeit von immenser Bedeutung. Resilienz sei ebenfalls wichtig, damit die Kinder lernen, auch in schwierigen Situationen nicht aufzugeben. «Darüber hinaus sollte ihr Selbstbewusstsein gestärkt werden. Erst wenn den Kindern bewusst wird, wo ihre Stärken liegen und dass sie diese in fast jedem Bereich entwickeln können, werden sie diese gezielt einsetzen», fügt De Nicola hinzu.

Weiter sei es wichtig, sich vom ständigen Konkurrenzgedanken zu lösen. Kontraproduktiv sei hier insbesondere der Drang, alles zu bemessen und zu vergleichen. Die Intelligenz des Kindes und die für seine Persönlichkeit relevanten Werte lassen sich nach Auffassung des Philosophen nicht mit Noten messen. «Es gilt, Konkurrenz durch Kooperation zu ersetzen. In projektbasierter Gruppenarbeit würden die Kinder nicht nur lernen, wie man durch Differenzen untereinander etwas umso Wertvolleres schaffen kann, sondern auch, wie Eigenverantwortung, Kommunikation und Leadership funktionieren. Dabei würden auch wichtige soziale Fähigkeiten erworben werden.»

Bei genügend Freiräumen könne das Kind also autonom, selbstwirksam und intrinsisch motiviert lernen und sich die erwähnten für die Zukunft relevanten Kernkompetenzen bereits während der Schulzeit aneignen. «Wenn das Kind eine starke Persönlichkeit sowie einen ‹Growth Mindset› entwickelt und die Neugierde sowie Freude am Lernen nie verliert, dann spielt es keine Rolle, welchen Karriereweg es einschlagen möchte – es wird eine solide Grundlage für jeden Pfad erlangt haben», resümiert De Nicola.

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