Wo drückt Jugendlichen der Schuh? Hat Corona ihr Erleben verändert? Was hilft Teens in Krisen? Darüber weiss Thomas Brunner, Leiter Beratung bei Pro Juventute Bescheid.
Pro Juventute berät Jugendliche und unterhält auf der Website 147.ch eine Ratgeberplattform. Sie kennen die Probleme und Fragen von Jugendlichen. Wie geht es den Teenagern? Was sind die grössten Sorgen?
Wir sind jeden Tag mit rund 100 Jugendlichen in direktem Austausch per Telefon, Chat, E-Mail oder SMS. Weitere 500 besuchen uns auf der Ratgeberplattform 147.ch. Die Auswertung dieser Kanäle zeigt, dass die Jugendlichen sich mit all den Themen beschäftigen, die in dieser stürmischen Lebensphase auftauchen: Sexualität, Beziehungen, Freundschaft, Familie, Berufswahl, Selbstvertrauen. Zu uns kommen ganz normale Jugendliche mit ganz normalen Sorgen. Mit Problemen, die sich für Erwachsene vielleicht häufig harmlos anhören. Uns erreichen aber auch zunehmend eigentliche Hilferufe. Diese Jugendlichen erzählen von grossen persönlichen Problemen.
Worauf führen Sie diese Zunahme von Hilferufen zurück? Haben es die Jugendlichen heute schwerer?
Unser Eindruck ist, dass die junge Generation weiss, dass «darüber reden» helfen kann. Dass sie das dann auch tut, zeugt von ihrer Kompetenz und ist grundsätzlich als positives Zeichen zu verstehen.
Welche Beratungsformen sind bei Ihnen besonders beliebt?
Spannend ist, dass Jugendliche offenbar sehr bewusst den Kanal wählen, der für ihr aktuelles Anliegen am besten passt. So benutzen sie für eher schambehaftete Themen rund um Liebe und Sexualität am häufigsten die Ratgeberplattform 147.ch. Wenn relativ hoher Leidensdruck da ist, kontaktieren sie uns eher auf den persönlichen Beratungskanälen (Telefon, Mail, SMS und Chat).
Unser Eindruck ist, dass die junge Generation weiss, dass «darüber reden» helfen kann. Thomas Brunner
Nehmen Sie Unterschiede wahr zwischen Jungs und Mädchen?
Auf all unseren Kanälen hat es mehr weibliche Jugendliche. Jungs machen zwischen 30 Prozent und 40 Prozent aus. Nach wie vor wird offenbar vielen Jungs vorgelebt, dass sie Probleme selbst lösen müssen. Junge Männer setzen sich aber durchaus mit schwierigen Themen auseinander. So werden zum Beispiel unsere Ratgebertexte zu Themen wie Körperbild oder sexuelle Probleme mehrheitlich von männlichen Besuchern gelesen. Gerade für junge Männer sind anonyme Beratungsformate wie zum Beispiel unser Chat mit Gleichaltrigen, sehr hilfreich.
Hat Corona die Beratung verändert?
Ja, sowohl thematisch als auch in der Art der Kontaktaufnahme. Wir verzeichnen eine starke Zunahme von Beziehungsthemen. Freund verlieren, Freunde finden, Konflikte in der Familie und Selbstwert sind die Themen mit der grössten Zunahme. Das Thema Mobbing ist während dem Lockdown markant zurückgegangen, was gut erklärbar ist. Was auch auffällt: Die Anzahl der telefonischen Kontakte war leicht rückläufig, während die Kontakte auf den schriftlichen Kanälen stark zunahmen. Wir erklären uns das so, dass die Jugendlichen im Lockdown zu Hause weniger Möglichkeit hatten, ungestört zu telefonieren und darum auf den «stillen» schriftlichen Kanal zurückgriffen.
Jugendliche stehen heute unter grossem Leistungsdruck. Was hilft, diesem Druck standzuhalten?
Unser Eindruck ist, der Leistungsdruck entsteht, weil in unserer Gesellschaft Selbstoptimierung angesagt ist. Uns wird vermittelt, dass wir es selbst in der Hand haben, schön, erfolgreich, begehrt und beliebt zu sein. Wer zu dünn oder zu flach ist, findet Hilfe im Gym oder bei Botox, wer kein Geld für die angesagten Konsumgüter hat, dem hilft der Kredit. Wenn das Wochenende lahm war, kann es auf Instagram aufgepeppt werden. Wenn grundsätzlich alles möglich scheint, dann ist man persönlich schuld, wenn man versagt. Das erzeugt selbstverständlich hohen Druck! Im Austausch mit den Jugendlichen beleuchten wir diese Zusammenhänge und zeigen Verständnis, wenn sie sich gestresst fühlen. Zu verstehen, dass alle unter diesem Druck stehen, macht die Situation leichter akzeptierbar und fördert den Mut, nicht bei allem mitzumachen.
Eine kürzlich publizierte Studie zeigt, dass besonders junge Menschen ihre negativen Gefühle verstecken. Warum fällt es uns so schwer, auch über negative Gefühle zu sprechen?
Diese Erfahrung machen wir bei unserer Arbeit nicht. Junge Menschen sprechen bei 147 über schwierige Themen und negative Gefühle. Hier spielt wohl mit, dass die Jugendlichen bei uns anonym bleiben können. Dass es Jugendlichen im privaten Umfeld nicht leichtfällt, über Negatives zu sprechen, hängt wohl auch mit dem erwähnten Druck zur Selbstoptimierung zusammen. Wer ist in einer Welt voller Möglichkeiten schon gerne ein Verlierer?
Warum ist es wichtig, auch über negative Gefühle zu sprechen?
Das Sprichwort «geteiltes Leid ist halbes Leid» ist eben mehr als eine hohle Phrase. Wir öffnen uns, offenbaren unsere Ängste und Schwächen und erleben im besten Fall, dass wir trotzdem angenommen und geliebt werden. Wir können so Druck abbauen, können uns gegenüber milder sein und uns selbst besser akzeptieren. Zudem eröffnet der Austausch mit einem Gegenüber neue Sichtweisen und lässt Auswege erkennen. Ein vertrauensvolles Gespräch erweitert den Blickwinkel. Eine der eindrücklichsten Erfahrungen dabei ist, dass viele Menschen sich und ihre Probleme als Sonderfall einstufen – und dann überrascht sind, dass es vielen andern auch so geht.
Was ist Ihre Empfehlung für Eltern, die sich um ihre Teenager Sorgen machen?
Einerseits, dass «sich Sorgen machen um die eigenen Kinder» zum Elternsein ganz selbstverständlich dazu gehört. Andererseits, dass man nicht lange zuwarten soll. Auch für Eltern gilt: Sorgen benennen und sich mit einem vertrauensvollen Gegenüber auszutauschen entlastet und macht Hilfe erst möglich.
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