Im Alter von nur drei Wochen wurde Myriam von ihrer biologischen Familie aufgegeben. Jedoch hatte sie das Glück, von einer liebevollen Familie in der Schweiz aus Indien adoptiert zu werden. Sie erzählt uns ihre Geschichte.
Myriam, wann und wo begann Ihre Geschichte?
Ich wurde im August 1984 in Amravati geboren, einem kleinen Dorf in Indien, unweit von Bombay. Man fand mich in einer dieser Kisten, in denen Kinder zurückgelassen werden. Da war ich knapp drei Wochen alt. Mein Geburtsdatum wurde auf den 22. August gelegt. Ich habe keine Dokumente, niemand weiss, wann ich wirklich geboren bin. Anschliessend wurde ich für sieben Monate in ein Mutter-Teresa-Kinderheim gebracht. Schliesslich wurde ich adoptiert. Als ich in die Schweiz kam, war ich also noch ganz klein.
Wie haben sich Ihre Eltern dazu entschlossen, Sie zu adoptieren?
Meine Mutter erlitt mehrere Fehlgeburten und eine ektopische Schwangerschaft [Anm. d. Redaktion: Schwangerschaft ausserhalb der Gebärmutter]. Meine Eltern hatten bereits ein biologisches Kind, meinen Bruder. Sie wollten gerne noch eines, aber auf natürlichem Weg klappte es nicht. Schliesslich entschieden sie sich für eine Adoption in Indien.
Wussten Sie schon immer, dass Sie adoptiert wurden?
Die ersten drei Jahre wusste ich es nicht. Wenn man so klein ist, sieht man gewisse Unterschiede, wie die Hautfarbe, noch nicht. Später merkt man diese Dinge. Meine Eltern sprachen immer frei und offen über meine Adoption. Sie haben auch alle Dokumente aufbewahrt.
Haben sich Ihre Adoptiveltern Ihren Vornamen ausgesucht?
Ja, mein Name ist Myriam Anita. Sie haben mir einen Namen gegeben, weil mein indischer Name nicht wirklich indisch war.
Wie haben Sie erfahren, dass Sie adoptiert wurden?
Im Kindergarten haben die anderen Kinder über mich gesprochen. Sie sagten beispielsweise, dass ich nicht die gleiche Hautfarbe wie meine Eltern habe. Meine Eltern haben mir dann alles erklärt. Sie erzählten mir, dass ich mit dem Flugzeug hierherkam, nachdem sie zwei Jahre auf mich gewartet hatten. Es sei ein langer Prozess gewesen. Eines Tages erhielten sie meine Akte und ein Foto, und mein Bruder sei immer mit dem Foto herumgelaufen. Ich weiss auch, dass die Schwestern im Waisenhaus mich als ein ruhiges, friedliches und fröhliches Kind beschrieben haben. Ich war immer ein pflegeleichtes Kind, obwohl ich meine Familie nicht wirklich kannte.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich fragte mich, warum meine biologische Familie mich aufgegeben hatte. Aber dank all der Liebe, die ich von meine Adoptivfamilie erhielt, hatte ich nie das Bedürfnis, nach meinen biologischen Eltern zu suchen.
Manchmal fragte ich mich, woher mein Aussehen kommt oder ob ich biologische Geschwister habe. Mehr wollte ich jedoch nie wissen. Ich kam früh zum Schluss, dass mich meine biologischen Eltern verlassen haben, weil sie mir nicht bieten konnten, was ich letzten Endes bekam. Sie machten mich zur Gewinnerin. Ich glaube, mich aufzugeben war ein Akt der Liebe.
Sind Sie bereits einmal nach Indien zurückgekehrt?
Ich möchte schon lange eine Reise nach Indien organisieren, um die Kultur aus nächster Nähe zu entdecken. Aber ich wollte nie nach meiner biologischen Familie suchen. Es wäre die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Die Adoption war anonym, es gab keine Dokumente.
Wie ist Ihr Verhältnis zur indischen Kultur?
Ich liebe die indische Kultur und auch das Essen! (lacht) Mit meinen Eltern schaute ich mir Berichte und Fotos von Benoit Langes an, der sich fotografisch mit der indischen Kultur und den Menschen beschäftigte. Da mein Vater viele Allergien hat, war eine Reise nach Indien für ihn nicht möglich. An meiner Hochzeit brachten wir jedoch ein wenig Indien in die Schweiz, denn wir verwandelten meinen Sari in ein Hochzeitskleid. Die indische Kultur ist in meinem Herzen und dem Herzen meiner Kinder verankert.
Was haben Ihnen Ihre Eltern beigebracht?
Sie haben mich gelehrt, andere Menschen zu respektieren. Sie brachten mir bei, dass es im Leben und in der Familie Höhen und Tiefen gibt, und es immer der beste Weg ist, das Gespräch zu suchen. Auch lehrten sie mich Ehrlichkeit, und dass es wichtig ist, immer nach vorne zu schauen.
Welche Eigenschaften haben Sie von Ihren Eltern übernommen?
Alle! (lacht) Beispielsweise habe ich die gleiche Haltung wie meine Mutter, die gleiche Art zu stehen und zu sprechen. Wir orientieren uns an den Menschen, die uns nahestehen, aber jeder hat einen eigenen Charakter. Ich bin meinem Bruder zum Beispiel überhaupt nicht ähnlich. Ich war immer schon sehr positiv und habe viel gelacht. Die Tatsache, dass ich ein leichtes Leben ohne nennenswerte Probleme hatte, spielt dabei bestimmt auch eine Rolle. Das hat mir oft geholfen.
Wie ist die Beziehung zu Ihrem Bruder?
Wir sind uns zugleich nah und doch fern. Mein Bruder ist sehr introvertiert und unsere Lebenswege sind leider etwas auseinandergegangen. Ich verliess das Elternhaus sehr früh, er hingegen blieb lange bei meinen Eltern. Wir haben nicht die gleichen Leidenschaften, die gleichen Interessen und wir haben Lebensstile, die es uns schwer machen, uns oft zu sehen. In diesem Sinne sind wir weit voneinander entfernt, aber wenn wir die Möglichkeit haben, zusammenzukommen, sind wir sehr glücklich.
Hatten Sie als Adoptivkind eine schwere Zeit?
Ich hatte eine ganz normale Kindheit. Wie alle Menschen, habe ich auch Schwieriges erlebt. Als wir klein waren, sagte mir mein Bruder manchmal im Streit, dass ich nicht zur Familie gehöre, weil ich adoptiert bin. Es war nicht ernst gemeint, wir waren Kinder. Manchmal haben wir als Familie über adoptierte Kinder gesprochen. Manche denken, dass eine Adoptivfamilie schlussendlich eine Patchwork-Familie ist. Für mich macht das keinen Sinn. Ich denke, ein Adoptivkind wird genauso geliebt wie ein biologisches Kind.
Wie es für Sie, seit Sie erwachsen sind?
Heute erlebe ich manchmal störende Situationen aufgrund meiner Hautfarbe. Ich arbeite in der Pflege und einige ältere Menschen sind neugierig. Aber wenn ich meine Geschichte erzähle, darauf hinweise, dass ich adoptiert wurde und mit den gleichen Werten wie sie, den Schweizer Werten, aufgewachsen bin, scheint es auf einmal weniger problematisch zu sein. Neulich sagte mir zum Beispiel eine Dame, dass sie überrascht sei, weil ich gut Französisch spreche (lacht). Die Leute sind neugierig.
Hat Ihre Geschichte Ihre Ansichten zur Adoption beeinflusst? Wie denken Sie über Adoption im Allgemeinen?
Ich würde wirklich gerne ein Kind adoptieren, das war immer mein Traum. Der Prozess ist jedoch kompliziert und langwierig und es müssen viele Dokumente bereitgestellt werden. Es ist hoffnungslos! Aber ich habe das Glück, drei biologische Kinder zu haben und das ist wunderschön. Ich glaube auch, dass die Tatsache, dass heutzutage immer mehr Prominente adoptieren, die Adoption leicht erscheinen lässt. Ich halte es für unfair: Es gibt Menschen, die sich ein Kind wünschen, die Liebe zu geben haben, doch denen diese Chance vorenthalten wird.
Warum haben Sie davon geträumt, ein Kind zu adoptieren?
Ich wollte gerne einem benachteiligten Kind das weitergeben, was ich bekommen habe.
Welchen Rat würden Sie Adoptiveltern oder Adoptivkindern geben?
Es braucht Respekt und Offenheit von beiden Seiten. Denn das Wichtigste ist es, dem Kind die Wahrheit über die Adoption zu sagen. Der Dialog ist wichtig. Auch sollten innerhalb der Familie keine Unterschiede gemacht werden.
Sind Sie heute glücklich?
Ja, ich bin sehr erfüllt!
Text Andrea Tarantini
Übersetzung Fatima Di Pane
Die Adoptionsstory von Rebecca gibt es hier.
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