nahaufnahme eines auges. symbolbild cyberspace
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Deutschland Jugend

Gefangen im Cyberspace

04.07.2023
von Rüdiger Schmidt-Sodingen

Die Coronapandemie hat das Sitzen vor Geräten, vor immer perfekteren Games und immer persönlicher wirkenden Social-Media-Kanälen begünstigt. Wie können Jugendliche besser mit diesen virtuellen Welten im Cyberspace umgehen? Und was können Eltern oder das Lehrpersonal tun? 

Das waren noch Zeiten, als der Fernsehmoderator Peter Lustig am Ende seiner halbstündigen Kindersendung »Löwenzahn« das Publikum dazu aufforderte, den Fernseher auszumachen. Statt »Macht mal Schluss« leben die kleinen und großen Mattscheiben heute davon, immer neue Vorschläge an ihr jugendliches Publikum zu senden – verbunden mit Querverweisen auf andere Plattformen, Websites und Apps. Virtuelle Welten sind halt nur Welten, wenn sie statt einem »Raus« ein »Weiter« vorgeben. 

»Raus vor die Tür« – ist das der neue Ego-Shooter?

Jugendliche verbringen immer mehr Zeit in virtuellen Welten, mit Computerspielen und sozialen Medien. Das Perfide: Die virtuellen Welten gaukeln Bewegung vor, führen aber im Gegenteil zu immer passiveren Körpern, die auch das Gemüt beeinflussen. Die sozialen Medien sind längst zur Waffe geworden, etwa wenn Kinder andere Kinder anprangern, für vermeintlich außergewöhnliche Aktionen Likes sammeln, Challenges bestehen wollen, Hass hinausposaunen oder sogar »Exempel statuieren« wollen.

Die Studie »Mediensucht in Zeiten der Pandemie« der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) kam Anfang des Jahres zu einem Ergebnis, das man eher teilen statt liken sollte: 74 Prozent der Jugendlichen nutzten im Juni 2022 die sozialen Medien täglich, 12 Prozent sogar fünf Stunden oder mehr. 15 Prozent der Jungen sind als Hardcore-Nutzer oder Social-Media-Süchtige zu bezeichnen, bei den Mädchen sind es 8 Prozent. Die tägliche Nutzung von Computerspielen fällt zwar um die Hälfte geringer aus, doch Jungen sind umso deutlicher die täglichen Nutzer. Die Computerspielsucht mit einer Nutzungszeit ab fünf Stunden ist bei Minderjährigen auf 6 Prozent angestiegen. 8 Prozent aller befragten Jungen und 3 Prozent der Mädchen fallen darunter. Während die Nutzung von Games von Mädchen auch an Wochenenden oder in den Ferien nicht signifikant zunimmt, steigt sie bei Jungen auf mehr als das Doppelte. 

Aus Spiel wird Ernst

Auch Streaming-Dienste werden von knapp einem Drittel der befragten Jugendlichen täglich genutzt. Die Studie belegt, dass die Medien vor allem an den schulfreien Tagen, also am Wochenende oder in den Ferien, erheblich öfter und länger laufen. Das scheinbar Verspielte der sozialen Medien und Games greift wie beim schlechten »Mensch ärger‘ dich nicht« allerdings handfest in die reale Welt ein.

Langeweile aushalten? War gestern!

Beim Cyberstalking werden andere Personen über Handy und Apps verfolgt oder ausgekundschaftet. Die Rufschädigung in den sozialen Medien wirkt besonders perfide, da gerade Jugendlichen, die noch mitten in der Entwicklung sind und sich ausprobieren, fertige Bilder oder Charaktereigenschaften übergestülpt werden. Einzelne Texte oder Bilder werden in einen digitalen Pranger verwandelt – aufgrund singulärer, kaum überdachter Verhaltensweisen oder Sprüche oder auch unerwiderter Liebe. Dass sich Erwachsene mit pädophilen Neigungen oder perversen Gewaltfantasien im Virtuellen via Grooming als Kinder oder elterlicher Freund ausgeben können, um persönliche Treffen auszumachen und anschließend Straftaten zu begehen, ist nur die Spitze des Eisbergs. 

Viele Eltern wissen gar nicht, wie viel Zeit ihre Kinder im Cyberspace verbringen, statt die Nase in die frische Luft zu halten, sich zu Vereinssport oder einem Kinobesuch zu verabreden. Der Blick aufs Handy, von den Eltern vorgelebt, bestimmt die Körperhaltung und das Interesse. Der studierte Psychologe Rüdiger Maas konstatierte in seinem Buch »Generation lebensunfähig: Wie unsere Kinder um ihre Zukunft gebracht werden« eine Generation unglücklicher Kinder. Die Übersättigung der analogen Welt treffe auf eine Übersättigung in der digitalen Welt. Alles sei mühelos und sofort verfügbar. Langeweile aushalten? War gestern! 

Leben statt Likes 

Vielleicht würde es schon helfen, wenn sich Eltern bewusst sind, dass Plattformen wie TikTok oder Facebook nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus Profitgier eingeführt wurden. Natürlich wussten diese Plattformen von Anfang an, dass mit Millionen Userinnen und Usern auch immer radikalere Inhalte erscheinen, die sich allenfalls zeitverzögert löschen oder korrigieren lassen. Der Tod war und ist miteingepreist. 

Joya Thomes Film »One in a Million« dokumentierte in diesem Frühjahr die unterschiedlichen Welten zweier Mädchen auf beiden Seiten der sozialen Medien. Die Youtuberin Whitney lebt im US-Staat Georgia und hat eine Million Follower. Yara aus Neumünster in Schleswig-Holstein folgt ihr – und versucht ebenfalls, ihr Leben und ihre Träume in den Griff zu bekommen. Dem Film gelingt es, das wirkliche Leben als die eigentliche Sensation herauszustellen – auf beiden Seiten. Während Whitney zunehmend im Posting-Stress ist, um ihre Follower zufriedenzustellen, muss Yara sich ihrer Gefühle klar werden. Dass beide Mädchen fürs Turnen schwärmen, dokumentiert treffend, dass es sehr wohl ein Leben abseits der Entertainment-Maschinen mit ihren Like-Zählmaschinen gibt.    

Mechanismen offenlegen

Vielleicht könnte es auch helfen, das Private ins Öffentliche zu ziehen. Warum sollen Chat-Verläufe nicht doch einmal im Unterricht gezeigt, laut vorgelesen und dann diskutiert werden? Zum einen könnte so dargestellt werden, wie hart oder auch ungerecht eine vereinfachte Kommunikation wirken kann. Zum anderen könnten die Wirkungsweisen und Mechanismen dieser Kanäle und Messenger nachhaltig entzaubert werden. Wieso sehen die grafischen Gestaltungen dieser Chats so aus? Wieso erinnern Nachrichten einen daran, immer weiterzumachen? Wieso taucht Werbung auf? Wer verdient an der Nutzung? 

Würden Instagram-Posts und WhatsApp-Chats einmal an den Tafeln stehen wie Mathe-Formeln oder Deutsch-Sätze, würde sich schnell herausstellen, dass es sie zwar gibt, sie aber keinesfalls lebensbestimmend oder gar lebensvernichtend sein sollten. 

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