«Wildnis» ruft Bilder von unzugänglichen, weit entfernten Orten voller üppiger Natur und Gefahren hervor. Die Gedanken schwenken auf andere Kontinente und verweilen nicht hierzulande. Gibt es in der Schweiz wilde Natur? Und braucht es Wildnis in der Schweiz? Linda Surber ging diesen und weiteren Fragen nach und hat sich in ihrem Buch Unwegsam – Über die Chancen einer wilden Schweiz der Wildnis angenähert.
Das gängige Bild der Wildnis ist natürlich vielschichtiger. Man denkt dabei sowohl an lebhafte Dschungellandschaften als womöglich auch an Schweizer Wiesen. Die unterschiedlichen wilden Orte zeigen aber dennoch Gemeinsamkeiten: wild, weil ungezähmt. Wild, weil ungepflegt. Wild, weil ausufernd. Zumindest oberflächlich stellt «Wildnis» einen Gegensatz zur «Zivilisation» dar. Sie ist menschenleer, wenn nicht sogar menschenfeindlich.
Daher rührt auch die mitschwingende Gefahr. Das Überbordende und Ungewisse wirkt schnell einmal bedrohlich. Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Wildnis ist jedoch nicht nur negativ geprägt. Ausdrücke wie wildromantisch, wildes Abenteuer und Wildwasserfahrt sind beispielsweise positiv belegt. Das Konzept «Wildnis» ist komplex und operiert auf verschiedenen Ebenen. Einerseits ist sie ein kulturelles Konstrukt, andererseits geobiologische Realität. Sie ist gleichzeitig ein beunruhigender Ort und wünschenswertes Naturerlebnis in der pursten Form. Durch die Klimakrise ist die Wildnis auch ein wichtiges gesellschaftspolitisches Thema geworden.
Das Unfassbare greifbar machen
Die Vielschichtigkeit versteckt den Kern treffenderweise in einem Dickicht an Bedeutungen und individuellen Auffassungen. Was bedeutet «Wildnis» für die Schweiz? Keine einfache Frage. Und doch hat Linda Surber diesem Thema ein Buch gewidmet. Um schon das Fazit vorwegzunehmen: ein sehr gelungenes Buch.
Für mich passten die Schweiz und der Begriff ‹Wildnis› nicht wirklich zusammen. Linda Surber
«Eigentlich war es nie mein Ziel, ein Buch zu schreiben», sagt Surber über das Projekt. Die Gestalterin ist auf Umwegen dazu gekommen. Teil ihres Studiums war es, als Übung Bücher neu zu gestalten. Die Leidenschaft keimte auf: «Die vielen Entscheidungen im Bereich des Layouts, der Materialwahl, der Farben und Bindungen machten mir grossen Spass. Zusammen mit meinem grossen Interesse für Umwelt- und Naturschutzthemen wuchs nach meinem Bachelor der Wunsch, ein eigenes, richtiges Buchprojekt zu starten.»
Als sie zufällig einen SRF-Beitrag über die Frage entdeckte, ob es in der Schweiz noch echte Wildnis gebe, schien sich ein Thema für ihr Projekt gefunden zu haben. Denn Surber konnte das Dickicht selbst noch nicht durchblicken: «Ich wusste damals nicht viel über die Wildnis. Für mich passten die Schweiz und der Begriff ‹Wildnis› nicht wirklich zusammen.» So nahm die Spurensuche ihren Anfang, an der alle teilhaben können.
Ein Mosaik der Wildnis
In Unwegsam unternimmt Surber gar nicht erst den Versuch, eine monolithische Wahrheit darzustellen. Stattdessen wird das komplexe Bild der Wildnis in zwölf Interviews reproduziert. Die Leserschaft trifft ein Mosaik an, das die grossen Antworten nicht einfach klar darstellt. Persönliche Empfindungen finden genauso Platz wie wissenschaftliche Fakten und gesellschaftspolitische Möglichkeiten. Deutliche Aussagen wechseln sich ab mit subtilen Hinweisen darauf, was die Wirklichkeit ist oder sein könnte.
«Es stellt die vielleicht unbedarften Fragen danach, was in der Wildnis geschieht und welche Prozesse auch für uns Menschen immense ökologische Dienstleistungen erbringen», beschreibt Surber das Buch. Hinzufügen könnte man hier auch, dass in Unwegsam heraussticht, dass es dem Menschen schwerfällt, die Wildnis unabhängig von sich selbst zu verstehen. Oftmals wird die Frage «Braucht es sie?» mit der Frage «Welchen Nutzen kann man aus ihr ziehen?» vermischt. Die Stärke des Buches ist, diese Fragen zu entflechten. Mehr noch, es warnt regelrecht davor, die Legitimation für mehr Wildnis in der Schweiz im Nutzen für den Menschen zu suchen.
Ähnlich scheint es auch Surber zu sehen. Gefragt, wie sich ihre eigene Auffassung der Wildnis durch das Buch verändert hat, nennt sie einerseits ein erhöhtes Verständnis der biologischen Abläufe. Andererseits scheint die obige Interpretation ihrem zweiten Punkt nahe: «Die Wichtigkeit der wilden Gebiete wird einem bewusst, wenn man beginnt, sich mit dem ökologischen Nutzen auseinanderzusetzen.»
Nicht nur Worte
Unwegsam ist nicht nur eine gedankliche Auseinandersetzung mit Wildnis. Ganz im Gegenteil: Erklärtes Ziel von Surber war, «Zugang zu einem Thema zu schaffen, das bisher sehr wissenschaftlich besprochen wurde». Die Interviewform trägt ihren Teil zur Zugänglichkeit. Der andere Teil erleichtert das Design, indem das Erlebnis des Buches auch auf der visuellen Ebene Eingänge bietet. Es wird deutlich, dass dies das gewählte Metier von Surber ist.
Das Seitenlayout und die Schriftwahl ist einheitlich, leicht verständlich und hinterlässt doch einen wilden Eindruck. Surber sagte es wohl selbst am besten: «Typografische Kompositionen innerhalb des Buches, eine etwas wildere Anordnung der Textblöcke und die entsprechende Positionierung der Bilder lässt Betrachtende subtil noch tiefer ins Thema eintauchen.»
Tatsächlich vertiefen die Bilder den Eindruck von Wildheit. Kleine Abbildungen sind immer anders auf den Seiten platziert, während grössere eine Seite beinahe oder komplett ausfüllen. Die gewählten Ausschnitte zeigen sowohl ausgedehnte Landschaften als auch stark reingezoomte Ausschnitte, sodass manchmal auf den ersten Blick nicht erkennbar ist, was man sich genau ansieht.
Dieser Umstand zeigt in visueller Form, was auch aus den Interviews hervortritt: Die Wildnis in der Schweiz hat einen schweren Stand. «Die Motive und Bildausschnitte wurden nicht allein nach Kriterien der Harmonie definiert, sondern vor allem nach dem Parameter Unberührtheit», erläutert Surber. Und weiter: «Mein Anspruch war es, keine Spuren menschlicher Zivilisation in den Bildern zu zeigen, was sich in der dicht besiedelten Schweiz als sehr anspruchsvoll herausstellte.» Motive ohne menschliche Spuren zu finden, ohne Parkbänke, Strassen, Hütten oder abgesägten Baumstämme, sei eine Herausforderung gewesen.
Lesens- und erfahrenswert
Das Ziel von Surber, das verschachtelte Thema der Wildnis aus der Wissenschaft zu lösen, um es breiter und zugänglicher abzustützen, tritt spürbar aus den Seiten hervor – sowohl inhaltlich als auch visuell. Ironischerweise schafft das Buch das, was der Titel ihm abspricht: Unwegsam zeigt Wege auf. Es bietet Denkanstösse, Ansätze und kritische Fragen. Neuzugänger:innen und Erfahrene finden gleichermassen Zugang zur Wildnis und den mit ihr verwandten Themen. Was zurückbleibt, ist die Neugier nach mehr.
«Unwegsam» – Über die Chancen einer wilden Schweiz
«Das Buch zeigt Vielfalt und Monotonie, Farben und Formen und Kargheit und Lebendigkeit. Es ist eine Dokumentation der Wirklichkeit, ein Abbilden, ein Suchen nach Erklärungen, ein Finden von Wegen in unwegsamen Gebieten und ein Aufzeigen der Chancen einer wilden Schweiz.» – Linda Surber
Autorin, Fotografin und Gestalterin
Linda Surber
Vorwort von
Philippe Wäger, Schweizerischer Alpen-Club
Hauptsponsorin
Pro Natura
Erste Auflage, April 2022
208 Seiten
114 Bilder
ISBN: 978-3-9525606-0-0
Erhältlich unter lindasurber.ch/unwegsam oder im Buchhandel
Instagram: @unwegsam.wild
Schreibe einen Kommentar