Interview von Marina S. Haq

«Ganzheitliche Perspektiven müssen eingenommen werden»

Die Physikerin Marilyne Andersen arbeitete unter anderem als Doktorandin an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) und als Professorin am Massachusetts Institute of Technology (MIT). 2010 kam sie als Professorin und Leiterin des LIPID-Lab an die EPFL zurück und wurde drei Jahre später Dekanin der School of Architecture, Civil and Environmental Engineering (ENAC) an der EPFL. Im Interview mit «Fokus» erzählt sie von Energie und Gebäuden.

Die Physikerin Marilyne Andersen arbeitete unter anderem als Doktorandin an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) und als Professorin am Massachusetts Institute of Technology (MIT). 2010 kam sie als Professorin und Leiterin des LIPID-Lab an die EPFL zurück und wurde drei Jahre später Dekanin der School of Architecture, Civil and Environmental Engineering (ENAC) an der EPFL. Im Interview mit «Fokus» erzählt sie von Energie und Gebäuden.

Marilyne Andersen, was ist ein «Green Building»? 

Ein Gebäude, das als grün bezeichnet wird, hat einen minimalen ökologischen Fussabdruck. Damit ist zunächst der Kohlenstoff gemeint, der während des Bauprozesses in den Materialien eines Gebäudes enthalten ist. Beim Bau eines grünen Gebäudes wird also möglichst wenig Kohlenstoff – oder auch graue Energie genannt – verbraucht. Wir befassen uns auch mit einer weiteren Phase, der sogenannten Betriebsenergie, also der Energie, die für den Betrieb des Gebäudes benötigt wird. 

Wir können die Umweltfreundlichkeit eines Gebäudes mit der Art und Weise in Verbindung bringen, wie diese Energie zur Verfügung gestellt und gebraucht wird. Dazu gehören beispielsweise Technologien für erneuerbare Energie, die Strom liefern können, oder energieeffizienten Strategien, wie die Nutzung der Sonneneinstrahlung und Ausrichtung, intelligente Kontrolle der Angaben, natürliches Licht und Belüftung – all dies trägt zur Senkung des Energieverbrauchs in Gebäuden bei. Am grünsten wäre es, wenn es gar keinen ökologischen Fussabdruck hinterlassen würde, also keine Kohlenstoff-Investitionen und keine Betriebsenergie. Dies würde jedoch letztlich kein Gebäude bedeuten. Daher ist es schwierig, über ein Minimum zu sprechen.

Das Gebäude muss seinen Zweck erfüllen und Materialien durchdacht werden.

Was sind die Vorteile von grünen Gebäuden? 

Der Bausektor trägt in hohem Masse zur Energie- und Kohlenstoffproblematik und damit auch zum Klimawandel bei, mit dem wir derzeit konfrontiert sind. Deshalb besteht der grösste Nutzen grüner Gebäude darin, den Klimawandel einzudämmen. Es gibt aber auch greifbarere Vorteile, die sich direkt auf die Nutzenden von Gebäuden auswirken. Grün zu sein bedeutet auch, dass man sich mehr auf passive Strategien verlässt, wie zum Beispiel die Sonne als Licht- und Wärmequelle zu nutzen oder die Fenster zu öffnen, um frische Luft reinzulassen. All diese Strategien haben auch Vorteile für den Menschen, die Gesundheit und das Wohlbefinden.

Was ist beim Bau nachhaltiger und energieeffizienter Gebäude zu beachten? 

Das Wichtigste ist wahrscheinlich, dass man die Auswirkungen einer Entscheidung auf alle anderen kennt. Ganzheitliche Perspektiven müssen eingenommen werden. Das Gebäude muss seinen Zweck erfüllen und Materialien durchdacht werden.  Die gesamte Lebensdauer eines Gebäudes muss bedacht werden, sodass wir nicht die gesamte Investition in Kohlenstoff verlieren. Wie werden sich die Bedürfnisse der Bewohnenden und die verfügbaren Technologien über den Lebenszyklus verändern? Solche Fragen können nur beantwortet werden, wenn theoretisches und praktisches Wissen vernetzt und alle Akteure zusammengebracht werden.

Denken Sie, dass die Städte in der Schweiz energieeffizient sind? 

Schweizer Städte sind im Vergleich zu anderen Ländern sehr stark, was den öffentlichen Verkehr, die Infrastruktur und somit die Gesamtnachhaltigkeit betrifft. Das gute öffentliche Verkehrsnetz gibt den Menschen die Möglichkeit, auch ohne Privatauto mobil zu sein. Trotzdem benutzen wir für die meisten Wege in der Stadt immer noch das Auto. Es besteht also ein leichtes Missverhältnis zwischen den nachhaltigen Optionen und der schlussendlichen Wahl. Die Gebäude in der Schweiz – die Energieeffizienz, die Sonneneinstrahlung und das Niveau des Handwerks – sind von hoher Qualität. Wenn ein langlebiges Gebäude gebaut werden soll, muss man verantwortungsbewusst und nachhaltig konstruieren. Das ist eine ernstzunehmende Herausforderung, insbesondere weil wir in der Schweiz die Mittel dazu zur Verfügung haben.

Wie beurteilen Sie das Engagement der Schweiz für eine nachhaltige Entwicklung, insbesondere im Hinblick auf die Energieeffizienz des Gebäudebestands sowie das Alter unserer Gebäude?

Die Schweiz hat einen riesigen Gebäudebestand. Daher ist die Zahl der neuen Gebäude im Vergleich zu den bestehenden sehr gering. Dies spielt die grösste Rolle in der gesamten Energiegleichung oder der allgemeinen Gleichung im bestehenden Klimawandel. Da wir in der Schweiz gut bauen, halten unsere Gebäude sehr lange. Angesichts des steigenden Bewusstseins für die Bedeutung des Kohlenstoff-Fussabdrucks und des Kohlenstoffs im Zusammenhang mit dem Klimawandel, sollte man vorzugsweise die bereits bestehenden Gebäude sowie ihre Teile und Komponenten renovieren und wiederverwenden, um nicht den gesamten Kohlenstoff zu verlieren, der in ihnen enthalten war. Die allerletzte Wahl sollte sein, das Gebäude abzureissen und neu zu bauen. Wenn wir also neu bauen, müssen wir dies mit einer sehr geringen Kohlenstoffbelastung tun. Das heisst, mit einer sehr geringen grauen und operativen Energie, denn bei neuen Gebäuden haben wir keine Ausrede, etwas falsch zu machen.

Sie sind akademische Leiterin des Smart Living Labs und Gründungsdirektorin des Start-ups Oculight dynamics. Können Sie uns von Ihren derzeitigen Projekten erzählen? 

Die Forschung im Smart Living Lab konzentriert sich auf die Zukunft der gebauten Umwelt. Wir arbeiten an neuen Energiesystemen und an der Frage, wie Energie verwaltet werden kann – sei es im Hinblick auf das Design, den Bauprozess oder den Wohlfühlkomfort. Wir sind gerade dabei, ein zukünftiges Gebäude zu bauen, welches das gesamte Forschungszentrum Smart Living Lab beherbergen wird. Dies wird ein experimentelles Gebäude sein – es wird als richtiger Wohnraum, aber auch als Labor genutzt werden. Hier können wir testen, wie wir in Zukunft umweltfreundlich und produktiv arbeiten sowie dennoch gleichzeitig unseren Platzbedarf reduzieren können.

Oculight dynamics, ein Spin-off meines Labors an der EPFL, ist ein Start-up, das ich zusammen mit zwei meiner ehemaligen Doktoranden gegründet habe. Wir versuchen, unsere Forschungsergebnisse in der realen Welt verfügbar und nützlich zu machen. Wir haben eine Visualisierungsplattform entwickelt und teilen unser Wissen mit Architekt:innen, Bauherrschaften, Entwickler:innen und Menschen, die über neue Gebäude oder deren Renovierung nachdenken, um ihnen bei der Entscheidungsfindung über die Auswirkungen von Licht, insbesondere Tageslicht, zu helfen. Wir treffen Entscheidungen, die den Prozess in die richtige Richtung lenken, um das Tageslicht und seine Vorteile als eine der Prioritäten für die Gebäude zu setzen, weil es so wichtig für uns und für die Nachhaltigkeit dessen ist, was gebaut wird.

Ich bin eine starke Befürworterin einer gemischten Form des Unterrichts.

Wie kann man die jüngere Generation über energieeffiziente Gebäude informieren und ausbilden? 

Ich denke, dass die jüngere Generation sehr starke Wurzeln und tiefe Kompetenzen haben muss, damit sie Fachleute werden und mit ihrem Know-how etwas beitragen kann. Aber wir müssen sie auch so ausbilden, dass sie in der Lage sind, sich mit anderen Menschen auszutauschen, um breitere Probleme zu lösen und sich an Veränderungen anpassen zu können. Ich bin auch eine starke Befürworterin einer gemischten Form des Unterrichts. Einerseits sind theoretische Kurse wichtig, um das Wissen zu erfassen, andererseits ist die praktische Erfahrung wichtig, um komplexere Probleme anzugehen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie schwierig es ist, oft widersprüchliche Aspekte in Einklang zu bringen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Integration nachhaltiger Komponenten in Gebäuden. Eine erfolgreiche Integration ist dann gegeben, wenn man die nachhaltigen Elemente nicht von den inhärenten Elementen eines Gebäudes unterscheiden kann. Alles sollte eingebettet sein und zu einer harmonischen Gesamtgestaltung des Gebäudes beitragen. 

Wie können Einzelne zur Nachhaltigkeit eines Hauses oder eines Gebäudes beitragen? 

Alle von uns können sich hilflos fühlen, so als ob eine Person keinen Beitrag leisten könnte. Ich könnte aufhören, Fleisch zu essen oder mein Auto zu benutzen. Aber wir sollten wahrscheinlich die Position, in der wir uns befinden – ob als Professor:in, Journalist:in, Gärtner:in, Geldgeber:in –, nutzen, um eine positive Wirkung zu entfalten. Niemand von uns kann das gesamte Problem lösen, aber jede:r von uns hat seinen oder ihren eigenen Bereich, auf den man sich konzentrieren kann. Innerhalb dieses Bereichs können wir auf einer individuellen Ebene proaktiv handeln und mit gutem Beispiel vorangehen. Man kann andere von dem profitieren lassen, was wir an Wissen, Erfahrung oder Weisheit anbieten können. 

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19.10.2022
von Marina S. Haq
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