green building – nachhaltige energieeffizienz. energieautarkie
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Energie

In welchen Bereichen ist Energieunabhängigkeit möglich?

19.10.2022
von Kevin Meier

Der Wunsch nach Energieautarkie hat in der Schweiz Tradition. Der Gedanke manifestierte sich bereits im 19. Jahrhundert und erfuhr durch die beiden Weltkriege erneuten Schub. Bis heute ist die Energieautarkie als Utopie präsent – persönlich, regional und national.

Obwohl zu den Anfangszeiten der Elektrizitätsnutzung in der Schweiz die technologischen Möglichkeiten es noch nicht erlaubten, Strom über längere Distanzen zu transportieren, galt die Wasserkraft schon im 19. Jahrhundert als zukunftsfähig. Durch die zunehmende Elektrifizierung des Landes und den technischen Fortschritt musste eine verlässliche Energiequelle her. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam hinzu, dass die beiden Weltkriege die Verfügbarkeit von Energieträgern europaweit verknappten. Der Wunsch nach Energieautarkie wurde zu einer Notwendigkeit.

Hoffnungsträger der Energie

Zwischen 1910 und 1945 erlebte der Ausbau der Elektrizitätsinfrastruktur und der Wasserkraft Auftrieb. Sie wurde als «weisse Kohle» propagiert – im Gegensatz zur schmutzigen «schwarzen Kohle» aus dem Ausland. Tatsächlich erhöhte sich die Produktion von Strom aus Wasserkraft bis in die 1970er-Jahre. Während des Wiederaufbaus und des wirtschaftlichen Aufschwungs tat sich die Kernenergie, die noch allgemein als sauber angesehen wurde, als tragfähige Energiequelle hervor. Die Energiefrage schien damit geklärt.

Heute ist das Thema «Energie» wieder omnipräsent: Der Ausstieg aus der Atomkraft ist beschlossene Sache, der Energiesektor muss dekarbonisiert werden und die internationale Situation sorgt für Unsicherheiten. In Verbindung mit der Energiewende ist der Wunsch nach Energieautarkie zurück und soll die Abkehr von fossilen Energieträgern unterstützen oder gar erst ermöglichen.

Wie abhängig ist die Schweiz?

Seit 2018 muss der Strom aus Steckdosen in der Schweiz voll deklariert werden, nur für vor 2017 abgeschlossene Lieferverträge bestehen noch wenige Ausnahmen. Woher die Energie aus unseren Steckdosen kommt, kann im Stromkennzeichnungs-Cockpit auf stromkennzeichnung.ch eingesehen werden. Die neuesten Zahlen zum Liefermix zeigen, dass im Jahr 2021 rund 80 Prozent des Stroms aus dem Inland stammte. Ebenfalls knapp 80 Prozent des Gesamtverbrauchs machten erneuerbare Energien aus (Wasserkraft, Sonnen- und Windenergie sowie geförderter Strom). Nur auf die erneuerbaren bezogen stammten über 61 Prozent aus der Schweiz, mehr als 52 Prozent davon Wasserkraft. Am Strommix aus der Steckdose (noch) nicht beteiligt ist die Geothermie. 

Das netzunabhängige Haus

Auf kleinerer Ebene äussert sich das Bedürfnis nach Energieautarkie in Gebäuden, die den Bewohnenden genügend Energie ohne Einschränkungen liefern – bestenfalls mit genauso wenig CO2-Emissionen. Die Umwelt Arena Schweiz hat gemeinsam mit Partnern das erste energieautarke Mehrfamilienhaus der Welt im zürcherischen Brütten von 2016 bis 2021 unter Realbedingungen getestet. Die einzige externe Energiequelle ist die Sonne. In Kombination mit Speicherbatterien, Elektrolysegerät zur Umwandlung von überschüssiger Sonnenenergie in Wasserstoff und intelligentem Gebäudeleitsystem vermochte sie das Haus auch im Winter mit ausreichend Strom und Wärme zu versorgen. Ursprünglich sollte das Gebäude nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen werden. Die sonnenstarken Sommer führten allerdings dazu, dass der Bau mehr Energie erzeugte, als er speichern konnte. So wurde das Haus 2019 an das Stromnetz angeschlossen, um den Strom anderen zur Verfügung zu stellen. Das Projekt erwies sich als erfolgreich und konnte aufzeigen, dass die derzeitigen Mittel und Technologien für energieautarke Wohnbauten genügend fortgeschritten sind.

Laut Forschenden wäre es möglich, in Zukunft in einem energieautarken, versorgungssicheren Europa mit ausschliesslich erneuerbaren Energien zu leben.

Energieautarke Siedlungsareale

Die Frage ist, kann das, was auf Gebäudeebene klappt, auch auf Siedlungs- und Gemeindeebene funktionieren? Das solarbetriebene Haus war die direkte Inspiration für eine CO2-freie Überbauung in Männedorf ZH, die mit dem Watt d’Or 2021 in der Kategorie «Gebäude und Raum» ausgezeichnet wurde. Das Vorzeigeprojekt entstand in einer Zusammenarbeit aus der Umwelt Arena Schweiz und René Schmid Architekten AG. Versorgt wird die Siedlung mit Sonnen- sowie Windenergie. Überschüsse werden in einer Power-to-Gas-Anlage zur Speicherung umgewandelt. Der Anschluss an das Stromnetz dient also zur Verhinderung einer Strom- und Wärmelücke im Winter. Ähnliche Projekte sind denkbar für die gesamte Schweiz wie zum Beispiel die beinahe energieautarke Siedlung am Aawasser in Buochs. Ob schlussendlich die komplette Energieautarkie das Ziel sein mag oder nicht, aus diesen Projekten können neue klimafreundliche Baustandards entstehen.

Nationale Energieunabhängigkeit – eine Utopie?

Mit den Fortschritten auf Gebäude- und Siedlungsebene steigt die Hoffnung einer energieautarken Schweiz, insbesondere vor dem Hintergrund des Scheiterns des Rahmenabkommens mit der EU. Das Problem ist, dass die Schweiz mitten in Europa liegt und mit 41 grenzüberschreitenden Leitungen mit dem europäischen Verbundnetz verknüpft ist. Ohne ein Rahmenabkommen kann die Schweiz ihre Interessen nur sehr eingeschränkt einbringen. Eine Herauslösung der Schweiz aus dem Verbundnetz ist allerdings schwierig bis unmöglich. Denn die Stabilität und Stromversorgungssicherheit des Binnennetzes sind massgeblich abhängig vom europäischen Gesamtverbund. Von der Einbindung profitieren sowohl die Schweiz als auch deren Nachbarländer. Nimmt man eine grössere Perspektive ein, hat Europa ohnehin dieselben Ziele wie wir: Versorgungssicherheit, Effizienz und dekarbonisierte Energie. Forschende der ETH Zürich und der Technischen Universität Delft haben 2022 eine Onlineplattform zugänglich gemacht, in der man verschiedene Optionen für ein Europa ohne Energieimporte ausprobieren kann. Gepaart mit einem gezielten Ausbau der Übertragungsnetze wäre es laut den Forschenden möglich, in Zukunft in einem energieautarken, versorgungssicheren Europa mit ausschliesslich erneuerbaren Energien zu leben. Das Modell ist allerdings mit Unsicherheiten behaftet und macht keine Prognosen; es soll vor allem das Verständnis des Energiesystems erhöhen.

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