Interview von Linda Carstensen

Sara Aduse: «Rede dir nicht ein, eine halbe Frau zu sein – du bist eine ganze!»

In Äthiopien wurde die Autorin gewaltsam beschnitten. Im Interview gibt sie uns einen persönlichen Einblick in die Folgen.

Sara Aduse musste kämpfen. Mit sieben Jahren wurde sie in ihrem Heimatland Äthiopien beschnitten. Heute will die 32-Jährige die kulturelle Praxis, die bei ihr ein Trauma ausgelöst hat, für alle Zeiten beenden. Dafür setzt sie sich mit ihrer Stiftung ein.

Sara Aduse, du hast ein Buch mit dem Titel «Ich, die Kämpferin» geschrieben. Warum beschreibst du dich als Kämpferin?

Ich weigere mich, tatenlos unter den Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) zu leben. Mir wurde das im Alter von sieben Jahren in Äthiopien angetan. Die körperlichen Folgen sind bei mir zum Glück abgeheilt, aber die seelischen Verletzungen bleiben oft ein Leben lang. Ich tue nun alles, was in meiner Macht steht, um meine seelischen Verletzungen zu heilen, ein gesundes Sexleben zu führen und andere mit der Sara Aduse Foundation vor demselben Schicksal zu bewahren. Wir werden beschnitten, weil Sex als etwas Dreckiges angesehen wird und eine Frau kein erfülltes Sexleben führen darf. Eine Frau soll ruhig sein – auf keinen Fall wild oder gar erregt. Ich wurde verletzt. Aber für immer wütend, verletzt und tatenlos zu sein, war für mich keine Option.

Porträtfoto Sara Aduse

Hast du dich nie im Hass verloren?

Würde ich mich im Hass verlieren, hätte diese Schandtat ja immer noch die Kontrolle über meine Gedanken und Handlungen. Sollte ich wegen dem, was mir fremdbestimmt angetan wurde, mein Leben lang auch fremdbestimmt leben? Nein. Ich habe die Wut genutzt, um daraus etwas Gutes zu schaffen. Ich habe eine gesunde Resilienz aufgebaut, um nicht daran zu zerbrechen.

Zugegeben: Immer zu kämpfen, ist hart. Es gibt auch Momente, in denen ich einfach mal schwach sein, mich fallen lassen und wieder auffangen will. Bis jetzt war es vor allem ein Kampf. Mittlerweile sind meine seelischen Wunden am heilen, ich kann eine erfüllte Sexualität erleben und Freude erfahren. Dadurch, dass ich mit meiner Stiftung, der Sara Aduse Foundation, andere Frauen und Kinder vor demselben Schicksal bewahren kann, hat sich die Wut in Hoffnung umgewandelt. Ich werde immer kämpfen, aber das Kämpfen ist nun anders.

Oft heisst es, Frauen müssten sich durchsetzen und für ihre Rechte kämpfen. Doch für viele Frauen ist das nicht so einfach. Was können wir gegen dieses Mindset tun?

Hier in der Schweiz sind wir sehr privilegiert. Allein schon die Tatsache, dass wir über unsere Rechte mitdiskutieren dürfen, ist ein Privileg. Dennoch müssen wir ein Mindset aufbauen, das Stereotypen abbaut und das Bewusstsein über Geschlechterungleichheit schärft. Wir müssen uns gegenseitig Mut machen und unser Netzwerk stärken. Zudem muss die Politik und die Wirtschaft für Chancengleichheit sorgen. Frauen, die weit gekommen sind, müssen sich vermehrt zeigen – auch in den Medien – um als Vorbilder zu fungieren. All diese Schritte sind entscheidend. Sie sind entscheidend für eine Kultur der Gleichberechtigung, in der Frauen nicht mehr länger um gleiche Rechte kämpfen müssen.

Welche Rolle spielen kulturelle Traditionen und sozialer Druck in Gemeinschaften, in denen FGM praktiziert wird?

Weibliche Genitalverstümmelung gibt es seit Jahrhunderten. Sie wird von Generation zu Generation weitergegeben. Sie wird nicht infrage gestellt. «Wir wurden beschnitten, also werdet ihr auch beschnitten.» Kulturelle Traditionen und sozialer Druck spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Praxis von FGM wird als Teil des kulturellen Erbes und als Übergangsritus ins Erwachsenenalter angesehen. In der Regel wird sie im Alter von fünf bis sieben Jahren durchgeführt. Während der wichtigsten Entwicklungsphase lehren sie dir: «Deine Vagina ist dreckig.» Du wirst beschnitten und danach wirst du gefeiert – dann bist du eine reine Frau. Du wächst mit diesem Glauben auf und hast das Gefühl, es ist richtig so. Ich sehe mich in der Rolle, dieses Muster zu durchbrechen und einen neuen Standard zu setzen.

Wie können diese Muster aufgebrochen werden?

Soziale Normen, Erwartungen und der Wunsch nach Akzeptanz tragen dazu bei, dass FGM weiterhin praktiziert wird. Fälschlicherweise wird sie mit Reinheit und Schönheit gleichgesetzt. Um dieses Mindset zu ändern, braucht es ein Verständnis für die massiven gesundheitlichen Risiken, die seelischen Folgen und einen sensiblen Umgang mit kulturellen Gemeinschaften und Entscheidungsträgern.

Was ist dein langfristiges Ziel in Bezug auf die Selbstbestimmung von Frauen?

Mein langfristiges Ziel besteht darin, FGM zu beenden und ein Vorbild für Frauen zu sein. Ich möchte ihnen zeigen, dass eine seelische Heilung und ein erfülltes Sexleben möglich sind. Beschnittene Frauen können sich und ihren Körper neu kennenlernen und dabei neue sexuelle Lustpunkte entdecken.

Ich wünsche mir weltweit eine Gesellschaft, in der Frauen autonom Entscheidungen fällen und selbstbestimmt leben können. Eine Gesellschaft, in der alle den gleichen Zugang zu allen Lebensbereichen haben. Sara Aduse, Autorin und Gründerin der Sara Aduse Foundation

Dazu ist Aufklärung auf allen Ebenen notwendig. Ich wünsche mir weltweit eine Gesellschaft, in der Frauen autonom Entscheidungen fällen und selbstbestimmt leben können. Eine Gesellschaft, in der alle den gleichen Zugang zu allen Lebensbereichen haben. Frauen sollen über ihren eigenen Körper und ihre Gesundheit bestimmen dürfen. Auch eine adäquate Repräsentation in wichtigen politischen und wirtschaftlichen Positionen ist wichtig. Ich wünsche mir eine Welt, in der Frauen frei von Gewalt, Unterdrückung und Ungleichheit leben können.

Es gibt so viele Möglichkeiten zu spenden. Warum sollten wir für die Beendigung von FGM spenden?

Weil es ein Menschenrecht ist, nicht genitalverstümmelt zu werden. Jede einzelne Spende hilft, umfassende medizinische Versorgung, Rechtsberatung und Bildungsmöglichkeiten zu ermöglichen. Nur so kann den Mädchen geholfen werden. Sie brauchen diese Hilfe, um ein gesundes und selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Was können auch Nicht-Betroffene tun, um diesen Wandel zu unterstützen?

Aktivismus. Es ist so wichtig, auf mentale Gesundheit aufmerksam zu machen. Jede:r kann der Sara Aduse Foundation mit seinem oder ihrem Know-how helfen. Unternehmen können mit Spenden helfen oder mich für ein Referat über mentale Gesundheit, Resilienz und den Umgang mit einem schweren Schicksalsschlag einladen. Beiträge und Aufrufe teilen oder uns ehrenamtlich in allen möglichen Bereichen wie zum Beispiel Marketing und Fund Raising unterstützen. Wohlhabende können mit Geld helfen, Influencer:innen mit ihrer Reichweite. Wir sind dankbar für jede:n, der oder die mithilft.

Wie kämpft deine Stiftung gegen die weibliche Genitalverstümmelung?

Wir setzen auf Bildung. In Äthiopien bieten wir Partnerschaftsprogramme an. Durch diese Programme stellen wir sicher, dass unsere Mädchen Schulbildung (inklusive Uniform und Material) erhalten, wenn die Eltern zustimmen, ihre Töchter nicht beschneiden zu lassen. Dazu unterzeichnen sie einen schriftlichen Vertrag. Einmal im Jahr werden die Mädchen von einem Arzt oder einer Ärztin untersucht. Eine Studie von Unicef zeigt, dass Frauen, die zur Schule gehen, ihre Töchter um 40 Prozent seltener beschneiden lassen. Die ganze Familie wird durch die Schulbildung aufgeklärt und lernt, kritisch zu denken.

Du glaubst, dass man mit Aufklärungsarbeit viel bewegen kann. Warum?

Ich spreche mit Menschen, die mir zuhören und offen für Veränderungen sind. Aufklärungsarbeit ist so wichtig, weil den Menschen, die FGM praktizieren, nicht bewusst ist, welche schlimmen körperlichen und seelischen Folgen die Kinder haben, denen das angetan wird. Es gibt zum Beispiel auch den weitverbreiteten Mythos, dass FGM die Fruchtbarkeit der Frauen erhöht. Solchen Irrtümern können wir nur mit entsprechender Aufklärung entgegenwirken.

Welche Fortschritte in Sachen Selbstbestimmung und Freiheit der Frauen siehst du in deinem Heimatland Äthiopien?

In Äthiopien gibt es bemerkenswerte Fortschritte in der Selbstbestimmung und Freiheit von Frauen. Wir haben seit 2018 eine weibliche Präsidentin und die Anzahl der Frauen im Kabinett steigt. Viele Massnahmen wurden eingeleitet, um den Zugang zu Bildung zu verbessern und die Beschäftigungschancen von Frauen zu erhöhen. Gesetzliche Massnahmen, um Frauen vor Gewalt zu schützen, wurden umgesetzt. Dennoch bleibt die Gleichstellung der Geschlechter eine Herausforderung, insbesondere in den ländlichen Regionen.

Wo besteht in der Schweiz diesbezüglich noch Optimierungsbedarf?

Auch in der Schweiz müssen wir Aufklärungsarbeit leisten und den Betroffenen Möglichkeiten zur Heilung aufzeigen. Beschnittene Frauen, die hierher kommen, realisieren oft erst hier, dass mit der FGM in ihrem Heimatland eine Straftat begangen wurde. Wir müssen ihnen zeigen, dass es Wege gibt, Traumata und körperliche Verletzungen zu behandeln. Auch medizinisches Fachpersonal muss hierzulande im Umgang mit Betroffenen geschult und aufgeklärt werden. Was mich sehr freut: Die Gesundheitsdirektion Zürich plant eine Anlaufstelle für Betroffene, mit der ich zusammenarbeiten werde. Ausserdem sind Stiftungen wie die unsere auf Spenden von Grossunternehmen, Sponsoren und Privatpersonen angewiesen, um Bildung zu ermöglichen und FGM ein Ende zu setzen.

Du hast deine Beschneiderin in Äthiopien besucht. Wie hat dir das bei der Verarbeitung dieser traumatischen Erfahrung geholfen?

Überhaupt nicht. Ich war nicht einmal wütend auf sie. Diese Menschen wissen nicht einmal, warum sie sich gegenseitig beschneiden. Sie sind so überzeugt davon, dass Frauen kein Recht haben, ihre Sexualität auszuleben. Bei der Verarbeitung hat mir vor allem mein unersättlicher Antrieb nach Glück und Erfüllung geholfen.

Was hält deine Familie, insbesondere die älteren Generationen, von deiner Tätigkeit?

Meine Familie war schockiert, als sie mich auf der Frontpage von 20 Minuten sah. «Ich wurde genital verstümmelt» lautete der Titel. Ich habe sie nicht gefragt, ob sie einverstanden sind, dass ich öffentlich über meine FGM spreche. Heute unterstützt mich meine ganze Familie und steht voll hinter mir. Sie sehen, dass ich glücklicher geworden bin und ein selbstbestimmtes Leben führe.

Was möchtest du betroffenen Frauen mit auf den Weg geben?

Rede dir nicht ein, dass du eine halbe Frau bist – du bist eine ganze. Auch wenn du zugenäht wurdest und im Stillen leidest, es gibt Wege, dich körperlich und seelisch zu heilen. Solange du dich nicht für dich einsetzt, ändert sich allerdings nichts und du bleibst eines von vielen Opfern einer Straftat. Es fehlt dir vielleicht an Mut, aber nicht an Optionen. Übernimm die Verantwortung für dein Leben und führe ein selbstbestimmtes und glückliches Leben.

Sara Aduse Foundation

Eine Patenschaft ermöglicht es uns, gezielte und nachhaltige Unterstützung für betroffene Mädchen und Frauen bereitzustellen. Durch eine Patenschaft kann einem konkreten Individuum die Möglichkeit auf Schutz, Bildung und eine bessere Zukunft ermöglicht werden.

Weitere Informationen unter saraadusefoundation.org

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28.05.2024
von Linda Carstensen
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