Im Bereich der Inklusion von Menschen mit einer Behinderung in die Gesellschaft macht die Schweiz grosse Fortschritte. So heisst es vonseiten des Bundes und der Kantone. Doch was halten die betroffenen Menschen von den Massnahmen, die bereits getroffen wurden? Und wo gibt es noch Aufholpotenzial?
Ab 2023 sollen alle Bahnhöfe der SBB barrierefrei begehbar sein. Dies fordert das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG). Stand heute ist jedoch davon auszugehen, dass nur 434 der insgesamt 764 Bahnhöfe der SBB auf Ende 2023 barrierefrei genutzt werden können. 300 weitere Bahnhöfe werden erst 2024 umgebaut. Für die 30 übrig gebliebenen Bahnhöfe setzt man auf Lösungen im Sinne von helfendem Bahnpersonal oder auf durch das Contact Center Handicap geplante Alternativrouten, die solche Bahnhöfe umfahren. Die Begründung für den nicht vorgesehenen Umbau der 30 Bahnhöfe stammt aus dem Gesetzestext des BehiG. Es ist vorgesehen, die Mittel der öffentlichen Hand verhältnismässig einzusetzen. Sprich bei Bahnhöfen, bei denen die Kosten der Anpassung nicht im Verhältnis zur Nutzung des Bahnhofes stehen, kann auf andere Lösungen gesetzt werden. Auf dem Weg zur kompletten Gleichstellung in der Schweiz ist dies aber eine noch vergleichbar kleine Hürde. Grundsätzlich muss immer noch geklärt werden, welches Ausmass die Gleichstellung annehmen soll.
Das Problem mit zwei Ansätzen
Das BehiG, welches seit dem 1. Januar 2004 in Kraft ist, regelt die Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung in der Schweiz. Zusätzlich hat die Schweiz das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit einer Behinderung der UN am 14. April 2014 ratifiziert. Diese zwei Gesetzestexte fordern die Schweiz auf, sich der Beseitigung von Diskriminierung an Menschen mit einer Behinderungen anzunehmen. Die Absicht des Übereinkommens ist aber eine andere als die des BehiG. Zentral für das Übereinkommen ist eine vollständige Inklusion, während für das BehiG ein Anbieten von Alternativen zielführend ist. Oder anhand eines Beispiels aus der Schulbildung ausgedrückt: Das Übereinkommen will Menschen mit einer Behinderungen die Teilnahme am Unterricht an regulären Schulen ermöglichen, und zwar auf allen Bildungsstufen. Das BehiG sieht ein separates Angebot an Sonderschulen vor und dies nur für die obligatorische Bildung. Es sind beispielsweise keine Vorlesungen in Gebärdensprache an Universitäten vorgesehen. Die im März 2022 stattgefundene Überprüfung des Fortschritts durch die UN zeigt auch genau deshalb klare Mängel an den aktuellen Massnahmen. Ein sogenannter «Schattenbericht» des Dachverbands der Behindertenorganisationen Schweiz, Inclusion Handicap, ist in seinem Inhalt noch umfangreicher als der Staatenbericht.
Bemängelt wird das Fehlen einer Strategie zwischen Bund und Kantonen.
Was wollen die Betroffenen?
Bemängelt wird das Fehlen einer Strategie zwischen Bund und Kantonen. Tatsächlich verfolgen die beiden Gesetzestexte unterschiedliche Ansätze. Inclusion Handicap, welche die Bedürfnisse der Menschen mit einer Behinderungen in der Schweiz vertritt, bevorzugt die Vorgehensweise nach dem UN-Übereinkommen. Sie fordern somit eine einheitliche Inklusion in die Gesellschaft und nicht das Aufbauen einer Doppelgesellschaft mit Sonderschulen und geschützten Werkstätten. Öffentliche Institutionen sowie private Dienstleister müssten ihr Angebot vollumfänglich Menschen mit einer Behinderungen zugänglich machen. Hauptpunkte sind das selbstbestimmte Leben, ein inklusives Bildungssystem und der Zugang zum Arbeitsmarkt. Menschen mit einer Behinderung sollen frei in der Wahl der Wohnform und des Wohnsitzes sein und über Assistenzbeiträge in ihren Entscheidungen unterstützt werden. Sowohl im Bildungssystem als auch im Arbeitsmarkt soll es möglich sein, dass Menschen mit und ohne Behinderung Tischnachbarn sein können. Und dies an der gleichen Schule oder im gleichen Unternehmen.
Ein schwerfälliger Fortschritt
Wenn man nun die Schweiz mit ihren Nachbarländern Deutschland und Österreich vergleicht, ist ein markanter Unterschied feststellbar. Sowohl Österreich als auch Deutschland haben bereits das Zusatzprotokoll des Übereinkommens unterzeichnet. Dieses räumt Menschen mit einer Behinderung das Recht zur Individualbeschwerde ein. Einzelne können so ihre Ansprüche vor dem UN-Behindertenrechtsausschuss in Genf geltend machen. Für Schweizerinnen und Schweizer ist dies leider noch nicht möglich. In der Umsetzung des Übereinkommens sind die beiden Landesregierung aber ähnlich weit wie die Schweiz. Zeit dafür hatten alle drei etwa gleich viel, denn sie haben alle das Übereinkommen zu einem ähnlichen Zeitpunkt ratifiziert. In allen drei Ländern wird der Fakt bemängelt, dass man noch zu oft auf getrennte Sondereinrichtungen setzt und nicht auch die Privatwirtschaft zum Handeln auffordert. Ebenfalls ist in allen drei Ländern erkennbar, dass kein Diskurs zum Thema in der Öffentlichkeit, der Politik oder in den Medien stattfindet. Ohne eine offene Diskussion in der Gesellschaft hat sich die Umsetzung des Übereinkommens offenbar als schwierig herausgestellt.
Die fehlende Diskussion rund um Barrierefreiheit
Abschliessend gilt es noch zu erwähnen, dass es nicht nur die Schweiz ist, die sich mit der Umsetzung der Massnahmen schwertut. Natürlich ist sie in gewissen Bereichen, wie zum Beispiel im öffentlichen Verkehr, weiter fortgeschritten als ihre Nachbarn. Aber sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland und Österreich liegt das Hauptproblem an einer fehlenden Übereinstimmung zwischen den landeseigenen Gesetzen und dem UN-Gesetzestext. Solange hier kein klarer Konsens gefunden werden kann, ist die Umsetzung und der Wandel zur inklusiven Gesellschaft für Menschen mit einer Behinderung schwierig bis unmöglich.
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