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Hindernisfreie Architektur
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Ein Leben miteinander setzt ein Wohnen ohne Hindernisse voraus

07.07.2023
von SMA

Wohnraum, der ohne Hindernisse zugänglich ist und sich an veränderte Lebenssituationen anpassen lässt, stellt eine zentrale bauliche Voraussetzung für soziale Inklusion dar. Doch wie schafft man derartigen Wohnraum, der den Bedürfnissen einer stetig wachsenden Anzahl von Menschen entspricht?

Jeder Mensch ist während seines Lebens, ob temporär oder dauerhaft, mit gewissen körperlichen und sozialen Einschränkungen konfrontiert. Gerade in diesem Kontext gewinnen die eigene Wohnung sowie das unmittelbare Wohnumfeld an zentraler Bedeutung: «Denn sobald Menschen altersbedingt oder aufgrund einer Behinderung in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, verkleinert sich ihr Lebensradius merklich», sagt Eva Schmidt, Leiterin der Schweizer Fachstelle für hindernisfreie Architektur. Sitzt nun ein Mensch im Rollstuhl oder muss temporär einen Rollator nutzen, werden selbst kleinste bauliche Hindernisse zu teils unüberwindbaren Hürden, die eine Teilhabe am alltäglichen und gesellschaftlichen Leben erschweren – oder gar gänzlich verunmöglichen. «Und genau hier müssen wir ansetzen», betont die Fachstellenleiterin.

In der Schweiz leben rund 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen verschiedener Art und Stärke, was etwa einem Fünftel der gesamten Bevölkerung entspricht. Nicht eingerechnet ist hier die steigende Anzahl Menschen der Babyboomer-Generationen, die mit zunehmendem Alter ihrerseits auf bedürfnisgerechten Wohnraum angewiesen sind. Allein aufgrund dieser soziodemografischen Entwicklung ist es kein «nice-to-have», der Bevölkerung Wohnungen anbieten zu können, die ohne bauliche Hindernisse aufwarten.

Wir alle möchten wohnen!

Laut einer Bedürfnisanalyse im Kanton Luzern aus dem Jahr 2022 möchte der Grossteil der befragten Erwachsenen, die heute in Wohnheimen leben, autonom, allein oder in einer Partnerschaft leben. Doch bezahlbare Wohnungen, die gleichzeitig noch hindernisfrei sind, stellen eine Seltenheit dar und bestehende Unterstützungsangebote für einzelne Wohnungssuchende reichen nicht aus. Denn selbstständig zu leben sowie am Leben anderer teilhaben zu können, wird für viele Menschen erst dann möglich, wenn die gebaute Umwelt nach den Grundsätzen des «Design for all» für alle zugänglich und benutzbar ist.

Was bedeutet das genau? «Um ein ‹Design für alle› zu realisieren, müssen wir beim Planen von Neu- und Umbauten die Hindernisfreiheit von Anfang an miteinbeziehen», so Eva Schmidt. Für den Wohnungsbau bedeutet dies, dass möglichst alle Wohnungen nach den Kriterien des hindernisfrei-anpassbaren Wohnungsbaus erstellt werden. Konkret sollen Wohnungen etwa mit einem Rollstuhl oder Rollator besuchsgeeignet und zugänglich sein – denn damit ist die soziale Teilhabe von Besuchern mit Behinderung gewährleistet. Dafür sind von Anfang an nur wenige Grundanforderungen an das Wohnungsinnere zu erfüllen. Damit wird jede Wohnung für alle ob mit oder ohne Behinderung flexibel nutzbar. Die Anpassung erfolgt, sobald es erforderlich ist, nach den Bedürfnissen der betroffenen Person.

Doch warum wird der hindernisfrei-anpassbare Wohnungsbau nicht flächendeckend umgesetzt, wenn er doch so überzeugend und naheliegend ist? «Zum Teil lässt sich dies auf eine mangelhafte Gesetzgebung zurückführen», weiss Schmidt. Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) verlangt erst ab neun und mehr Wohneinheiten, dass die Wohnungen zugänglich und anpassbar erstellt werden. Gerade einmal zehn Prozent der Wohnungen, die schweizweit zwischen 2006 und 2021 gebaut wurden, fielen damit überhaupt unter diese Regelung. «Da verwundert es nicht, dass Betroffene kaum eine Chance haben, auf dem heutigen Wohnungsmarkt eine geeignete Bleibe zu finden.»

Umdenken ist zwingend notwendig

Direkt von der Wohnungsnot betroffen sind aber nicht nur Menschen mit Behinderung allein, sondern auch ihre Partner:innen, Eltern, Kinder, Enkelkinder, Kolleg:innen und Freund:innen, die mit ihnen leben und Kontakte pflegen. Hinzu kommen all jene, die aufgrund von möglichen altersbedingten Beschwerden heute sowie in Zukunft eine stufenlos zugängliche und anpassbare Wohnung suchen werden: Bis 2050 werden in der Schweiz 2,7 Millionen Menschen, oder 25 Prozent der Gesamtbevölkerung, älter als 65 Jahre sein. Das heisst, dass künftig jede zweite Person eine solche Wohnung nachfragen wird. «Hindernisfreies Wohnen spielt also eine absolute Schlüsselrolle, damit wir der soziodemografischen Entwicklung hierzulande Rechnung tragen können», betont die Fachstellenleiterin. Allerdings: «Mit Neubauten allein werden wir dieses Ziel nicht erreichen», stellt Schmidt klar. Darum sei es unerlässlich, bestehende Wohnungen so umzubauen, dass sie zugänglich und anpassbar sind. «Und dies gelingt nur, wenn wir Investorinnen und Investoren sowie Gesetzgebende, Bauträgerschaften und Immobilienbesitzer:innen vom gemeinsamen Ziel einer zukunftsfähigen, hindernisfrei-anpassbaren Bauweise überzeugen können.»

Dafür stellen Wille, Kreativität sowie der Mut zu neuen Wegen wichtige Grundvoraussetzungen dar: Warum zum Beispiel nicht Mehrnutzungen oder geringere Grenzabstände zulassen, wenn damit eine hindernisfreie Erschliessung an der Fassade, vielleicht sogar verbindend, über mehrere Gebäude möglich wird? Warum nicht Fördergelder für energetische Sanierungen daran knüpfen, dass gleichzeitig mit dem Ersatz der Fenster ein rollstuhlgerechter Zugang zum Balkon realisiert wird? «Auch muss die Frage der Verhältnismässigkeit neu gestellt werden», führt Schmidt aus. Denn die Massnahmen für einen hindernisfrei-anpassbaren Wohnungsbau nützen jedem und jeder auch im Alltag. «Und können wir es uns heute tatsächlich noch leisten, Wohnungen zu erstellen, die uns am Wohnen hindern? Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand.»

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Hindernisfreie Architektur – die Schweizer Fachstelle

Als nationales Kompetenzzentrum engagiert sich die Fachstelle seit 1981 mittels Grundlagenarbeit, Forschung und Publikationen für hindernisfreie Lebensräume. Dabei bezieht man die Erfahrungen von Betroffenen mit ein und kooperiert mit Organisationen im In- und Ausland. Gemeinsam werden aktuelle Handlungsfelder definiert, zudem bezieht die Fachstelle Position zu laufenden Entwicklungen und vermittelt hindernisfreie Architektur in der Lehre und in der Praxis.

Weitere Informationen zu zukunftsfähigen Lösungen im Wohnungsbau und in der Gleichstellungsdebatte bei der Wohnraum-Frage finden Sie hier:

Download: Wohnungsbau, hindernisfrei-anpassbar

 

Download: Neue Wege im Wohnungsbau. Argumente für einen hindernisfrei-anpassbaren Wohnbaustandard

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