Skirennfahrerin Michelle Gisins Profikarriere ist von zahlreichen Höhepunkten geprägt. Was treibt sie dazu an, jede Saison ihr Bestes zu geben – und wie geniesst sie den Winter abseits des alpinen Rennzirkus? «Fokus» fragte nach.
Frau Michelle Gisin, wenn man über erfolgreiche Sportlerinnen und Sportlern spricht, kommt man schnell auf deren grösste Erfolge zu sprechen. Was würden Sie selbst als den grössten Erfolg Ihrer Karriere bezeichnen?
Ich durfte in meiner Karriere glücklicherweise schon viele emotionale Momente erleben, die mich geprägt haben und die mir dementsprechend in Erinnerung geblieben sind. Wenn ich davon eine einzelne Begebenheit aussuchen müsste, dann würde ich wahrscheinlich meine Podestplatzierung beim Riesenslalom 2021 in Kranjska Gora, Slowenien, herauspicken. Aus sportlicher Sicht war das wohl meine grösste Errungenschaft. Wenn ich die Frage allerdings eher aus einer emotionalen Sicht betrachte, dann würde ich wohl den Gewinn der Olympischen Goldmedaille in der Alpinen Kombination aus dem Jahr 2022 wählen. Denn sieben Monate zuvor sahen meine Aussichten noch sehr düster aus: Ich litt am Pfeifferschen Drüsenfieber, ging darum lange Zeit nicht davon aus, überhaupt fahren zu können. Dass ich dann schlussendlich wieder Olympiasiegerin geworden bin, hätte ich nicht zu träumen gewagt. Das Ganze war eine enorme Gefühlsachterbahn und wird mir darum sicherlich immer in Erinnerung bleiben.
Wechseln wir von den Highlights Ihrer bisherigen Karriere zum Beginn Ihrer Skilaufbahn: Wann war für Sie klar, dass Sie den Sport zum Beruf machen würden?
Ich habe mich im Alter von 15 Jahren bewusst für den Profisport entschieden. Ich hatte dabei das grosse Glück, dass mir grundsätzlich mehrere Wege offenstanden. Ich hätte zum Beispiel nach der Maturität auch den akademischen Weg einschlagen können. Doch mit 15 wechselte ich vom Untergymnasium der Stiftsschule Engelberg in die Sportmittelschule – und fuhr damals meine ersten FIS-Rennen. Mein Werdegang ist eigentlich sehr spannend, da ich nicht von klein auf Skirennfahrerin werden wollte. Als Kind hatte ich lange Zeit eher die Ambition, Miss Schweiz zu werden. Diesen Traum habe ich dann irgendwann nicht mehr aktiv weiterverfolgt (lacht). Meine Schwester sagte hingegen schon früh, dass es bei mir mit der Sportlerkarriere klappen könnte.
Wie sind Ihnen Ihre ersten Wettkämpfe in Erinnerung geblieben?
Meine erste FIS-Saison war super, leider folgten darauf drei Jahre, die von diversen Verletzungen geprägt waren. Nachdem ich die Sportmittelschule im Juni 2012 mit der Matura abgeschlossen hatte, war es dann wirklich an der Zeit, mein Hobby zum Beruf zu machen: Im Winter 2012/13 fuhr ich meine ersten Weltcuprennen und schaffte in den folgenden Jahren den grossen Schritt in Richtung Weltspitze im Slalom – mit vielen Top-Ten-Platzierungen.
Solche Erfolge sind sicherlich enorm motivierend. Wie aber gelingt es Ihnen, Ihre Motivation und Ihren Drive beizubehalten?
Diese Frage stelle ich mir auch immer wieder. Besonders nach meinem erneuten Olympiasieg war ich nicht sicher, wie ich dies alles noch toppen konnte – oder wollte. Entscheidend ist sicherlich auch mein tolles Umfeld. Da kommt es mir manchmal fast anmassend vor, noch mehr zu wollen. Doch Motivation ist kein starrer Zustand, sondern ein Prozess, der sich mit einem mitverändert. Ich musste also für mich einen anderen Zugang finden.
Und woraus ziehen Sie heute konkret Ihre Motivation?
Vor allem aus meiner Liebe für den Sport. Denn sobald ich im Starthaus stehe, steht dort wieder das kleine Mädchen, das es kaum erwarten kann, den Berg hinunterzufliegen. Mittlerweile kann ich auf mehr als 270 Starts zurückblicken, aber noch immer ist der Moment, in dem man ich mich auf die Piste «katapultiere», das Schönste überhaupt. Leider dauert die Saison nur vier Monate, dann heisst es wieder Durchbeissen im Kraftraum oder draussen keuchen beim Intervalltraining. Dem kleinen Mädchen macht das deutlich weniger Spass (lacht).
Wie sieht Ihr Trainingsansatz aus?
In diesem Jahr habe ich den Fokus vermehrt auch auf den Oberkörper gelegt. Denn es bringt nichts, nur die Beine zu stärken, vielmehr strebe ich ein balanciertes Ganzkörpertraining an. Der Schlüssel ist Explosivität. Zu diesem Zweck verbringe ich auch viel Zeit mit Konditionstraining, beispielsweise Jogging und Intervall-Einheiten und übe andere Sportarten aus wie Tennis oder Windsurfen.
Und welche Rolle spielt das mentale Training?
Der mentale Aspekt wird glücklicherweise im Laufe der Saison leichter. Ich habe über 40 Einsatze im Jahr, da entsteht eine gewisse Routine, die mir Sicherheit gibt. Mein Mentalcoach, Chris Marcolli, begleitet mich zudem seit rund zehn Jahren. Er ist mir eine wichtige Stütze.
Wie geniessen Sie eigentlich den Winter abseits der Skirennpiste?
Am liebsten gehe ich dann Langlaufen. Vor drei Jahren lag besonders viel Schnee in den Skigebieten, weswegen ich dieser Leidenschaft perfekt frönen konnte. Zu meinen Lieblingsdestinationen gehören Cortina d’Ampezo oder Schladming in der Steiermark, eine unglaublich schöne Gegend. Und dann bin natürlich auch liebend gerne in St. Moritz auf den Langlaufski unterwegs.
Der mentale Aspekt wird glücklicherweise im Laufe der Saison leichter. Ich habe über 40 Einsatze im Jahr, da entsteht eine gewisse Routine, die mir Sicherheit gibt. – Michelle Gisin
Wäre es für Sie keine Option, in der kalten Jahreszeit mal in eine sommerliche Destination anzupeilen und den Winter am Strand zu verbringen?
Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich liebe den Winter und den Schnee – und fliege daher eher im Sommer in winterliche Destinationen als umgekehrt (lacht). Der Wechsel der Jahreszeiten gehört für mich einfach dazu. Das heisst aber nicht, dass ich es nicht schön finde, warmes Wetter und Sonne zu geniessen. Den Herbst verbringe ich beispielsweise gerne mit meinem Verlobten am Gardasee bei wohligen 20 Grad.
Vielleicht verändern sich Ihre Ferienpräferenzen nach Ihrer Karriere?
Da wird eher das Gegenteil der Fall sein: Sobald ich keine Rennen mehr fahre, kann ich wieder richtige Skiferien geniessen. Das hatte ich noch nie so richtig – und kann es daher nicht erwarten.
Drei kurze Fragen zum Thema Winter an Michelle Gisin
Bestes Winteressen – Fondue oder Raclette?
Da sagt mir Raclette einfach etwas mehr zu.
Einen Schneemann bauen oder eine Schneeballschlacht austragen?
Lieber gemütlich einen Schneemann bauen. Und dann ab in die Sauna, davon bin ich ein Riesenfan!
Ski oder Snowboard?
Selbst wenn das Skifahren nicht mein Beruf wäre, würde ich immer wieder die Ski wählen. Das ist einfach die beste Art, sich auf dem Schnee zu bewegen.
Zur Person
Michelle Gisin wurde am 05. Dezember 1993 geboren. Die Skirennfahrerin, die im alpinen Ski-Weltcup 21 Podestplätze in allen Disziplinen erreicht hat, ist Teil der Schweizer Nationalmannschaft und gehört dem Skiclub Engelberg an. Zu den grössten Erfolgen ihrer Karriere gehört der Olympiasieg 2018 in der Alpinen Kombination, den sie 2022 wiederholen konnte.
Headerbild © Swissski, Stephan Bögli
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