Interview von Akvile Arlauskaite

Tilla Theus:«Projektieren heisst leiden und sich freuen»

Der Neubau des bestechend modernen Fifa-Hauptsitzes in Zürich, die Renovation der renommierten Widder Bar, die Errichtung des archaisch-harmonischen Gipfelrestaurants Weisshorn – mit ihrer Arbeit etablierte sich Tilla Theus als eine der profiliertesten Schweizer Architektinnen. Im Interview mit «Fokus» spricht sie über ihre Leidenschaften, Erkenntnisse und worauf sie bei ihrem Zuhause Wert legt.

Der Neubau des bestechend modernen Fifa-Hauptsitzes in Zürich, die Renovation der renommierten Widder Bar, die Errichtung des archaisch-harmonischen Gipfelrestaurants Weisshorn – mit ihrer Arbeit etablierte sich Tilla Theus als eine der profiliertesten Schweizer Architektinnen. Im Interview mit «Fokus» spricht sie über ihre Leidenschaften, Erkenntnisse und worauf sie bei ihrem Zuhause Wert legt.

Tilla Theus, wie würden Sie sich in wenigen Worten beschreiben?

Offen, neugierig und grundsätzlich positiv.

Gab es einen Schlüsselmoment, der Ihre Leidenschaft für die Architektur entfacht hat? Oder hat es Sie schon von Beginn an in diese Richtung gezogen?

Ich habe mein Studium gegen den Willen meines Vaters in Angriff genommen. Und das bedeutete natürlich, dass ich ganz sicher sein musste, dass es genau das war, was ich wollte. Da ich weniger sprachlich, sondern eher visuell und mathematisch begabt bin, kamen für mich nur Mode oder Architektur infrage.

Tilla Theus

Als eine der wenigen Frauen studierten Sie Mitte der 1960er-Jahre Architektur an der ETH Zürich. Wie hat Sie dieses Umfeld – damals noch eine Männerdomäne – geprägt?

Für mich war es ein Ansporn, einen Extra-Effort zu leisten. Das blieb bis heute so.

Heute studieren immer mehr Frauen Architektur. Dennoch ist die Gleichstellung in der Branche noch nicht erreicht. Was braucht es Ihrer Meinung nach dazu?

Die Arbeit in einem Architekturbüro folgt nicht unbedingt einem Taktfahrplan, sondern muss sich entwickeln können. Wenn der Tagesablauf aber so strikt vorgegeben ist, weil die Kita nur von 7:30 bis 17:45 Uhr offen ist, dann fehlt die Ruhe, um etwas voranzutreiben. Das Betreuungsangebot sollte dringend verbessert und umfassender gestaltet werden, damit beide Elternteile entspannt und konzentriert mit Freude arbeiten können. Und wenn die Arbeit abgeschlossen ist, genauso mit Freude das Familienleben pflegen. Bei meinen Architekt:innen spüre ich dieses Bedürfnis sehr stark.

Mit 79 Jahren sind Sie immer noch aktive Architektin. Was fasziniert Sie an Ihrem Beruf?

Lösungen für schwierige Problemstellungen zu finden und weiterzuentwickeln. Ausserdem über den Einfluss des Aussen auf das Innen und umgekehrt nachzudenken: Ein Gebäude besteht aus seiner Gesamtheit des Inneren und des Äusseren. Es ist eine Wechselwirkung, die auf mich inspirierend wirkt.

Mit welchen Herausforderungen sehen Sie sich in Ihrem Tagesgeschäft regelmässig konfrontiert?

Ich arbeite gleichzeitig immer an etwa zehn verschiedenen Projekten. Dabei ist es mir wichtig, diese persönlich gemeinsam mit den für das Projekt zuständigen Architekt:innen zu entwickeln. Dies setzt natürlich voraus, die ganze Vielfalt auch im Kopf zu behalten.

Wie gehen Sie an ein neues Projekt heran? Woher kommt die Inspiration?

Ich denke, denke, denke. Dann skizziere ich, versuche, verwerfe, beginne mit den Erkenntnissen des vorhergehenden Versuches immer wieder von Neuem. Die Inspiration kommt mit der Arbeit am Projekt, entwickelt sich aus der Fragestellung selbst.

Einer Ihrer Schwerpunkte liegt in der Projektierung und Ausführung von Neubauten im städtebaulich anspruchsvollen Kontext. Wie fügen sich Ihre Projekte in die Zürcher Architektur ein?

Sorgfältig. Massgeschneidert. Jede Stadt hat ihre Eigenheiten, aber auch jedes Quartier, jedes Gebäude und jede Bauherrschaft. Die Vielfalt zwischen einem historischen Widder-Hotel und einem Fifa-Gebäude fasziniert mich. Es gilt, Geschichte, Charakter und Anforderungen zu erfassen und eine passende Antwort zu finden.

Ausserdem sind Sie auf Umbauten und Sanierungen von denkmalgeschützten Objekten spezialisiert. Inwiefern soll das «Alte» gewahrt und was darf verändert werden?

Meine Entwürfe entwickeln sich aus dem Bestand heraus. Oder anders gesagt: Die Visionen für die Umbaumöglichkeiten liegen im Gebäude selbst begründet. Es ist nur notwendig, seine Haltung – die Seele des Gebäudes – zu erforschen, auf das Gebäude zu hören und zu erkennen, was es an Veränderungen zulässt oder was ein Zuviel bedeutet. Bei Umbauten ergibt es sich zum Beispiel oft, dass statische Ertüchtigungen notwendig werden. Und wenn diese schon hinzugefügt werden müssen, versuche ich, damit gleichzeitig den Innenraum zu prägen. Das heisst, mir etwas Einzigartiges, nur für ihn Geschaffenes auszudenken, damit Authentizität entstehen kann.

Welche Bedeutung hat das Experimentelle bei Ihren Projekten? Und das Traditionelle?

Jedes Projekt hat etwas Experimentelles und etwas Traditionelles. Man erkennt das vielleicht nicht auf den ersten Blick, es liegt im Unbegründeten. Bei einem Umbau entwickeln wir die Visionen aus der vorhandenen Substanz heraus. Somit liegt es schon im Objekt selbst begründet, in der Tradition. Um dies erkennen zu können und daraus etwas Neues, ein anderes Ganzes zu machen, braucht es umgekehrt das Experimentelle.

Auch in der Baubranche gewinnt Nachhaltigkeit zunehmend an Bedeutung. Welche Rolle spielen entsprechende Praktiken in Ihrem Alltag?

Gerade im Hinblick auf die graue Energie ist das Abreissen und Neubauen oft eine grössere Energieverschwendung, als Bestehendes zu verbessern. Bei unserer Arbeit im Umbausektor ist der Gedanke der Nachhaltigkeit an und für sich bereits da. Dass noch die energetischen Massnahmen dazukommen, ist für mein Team und mich eine Selbstverständlichkeit.

Welches Ihrer Projekte hat Sie besonders geprägt?

Projektieren ist ein Leidens- und ein Freudenweg. Egal ob es der erste Bau im Kanton Glarus war oder das komplexe Altstadtprojekt Widder-Hotel: Jedes Projekt prägt neu, jedes auf seine Weise.

An welchen Merkmalen erkennt man Sie in Ihren Projekten?

Es gibt keine «Tilla-Theus-Architektur». Wenn man aber im Zusammenhang mit meinen Projekten Attribute wie «unerwartet» oder «massgeschneidert» verwendet, dann freut mich das.

Wenn Zeit und Geld keine Rolle spielen würden: Welches Projekt würden Sie als nächstes in Angriff nehmen wollen und warum?

Ein Museum. Mich interessiert die Kunst an und für sich: Was ist Kunst heute? Wie gebe ich ihr Raum? Wie präsentiere ich sie? Alles Gedanken, die mich faszinieren.

Ich lege Wert auf Authentizität. Tilla Theus

Was wünschen Sie sich von Architekt:innen in Bezug auf die Bauten von morgen?

Ich wünsche mir, dass auch in unseren Breitengraden wieder etwas mehr Mut zu visionären Lösungen erkennbar wird.

Kommen wir nun auf das Thema der Ausgabe zu sprechen. Was bedeutet «Zuhause» für Sie?

Für mich ist das Zuhause ein Ort, an den ich immer wieder gerne für alle Aktivitäten, die das Leben ausmachen, zurückkehre: zum Arbeiten, zum Kochen, zum Lesen oder um mich mit lieben Menschen zu treffen.

Was macht ein schönes, behagliches Zuhause aus?

Ein Wohnhaus soll eine positive Atmosphäre ausstrahlen, aber auch im Gebäudeinneren mit seinen Räumen und seinen Raumfolgen eine gute Bewohnbarkeit und verschiedene Nutzungsarten ermöglichen. Heute werden die Räume vermehrt neutral gehalten und sind nicht für eine spezifische Nutzung wie Eltern-, Kinder- oder Wohnzimmer bestimmt. So wird den diversen Vorlieben der Bewohnenden gestalterisch Raum geboten. Eine inspirierende Wohnlichkeit mit positivem Ambiente ermöglicht ein Heimkommen.

Sie sind Expertin im Bereich Innenarchitektur und Raumdesign. Worauf legen Sie bei der Einrichtung Ihrer eigenen vier Wände wert?

So wie ich Innenarchitektur auffasse, und dies ist heute eigentlich allgemeingültig, beschränkt sich diese nicht auf das Möblieren oder die Auswahl von Vorhängen und Teppichen. Vielmehr umfasst sie das ganze Gebäude selbst, sein Aussen- und sein Innenleben. Insofern lege ich Wert auf Authentizität. Erinnerungsstücke müssen Platz haben. All diesen möchte ich im Ablauf meines Alltags begegnen können.

Welches ist Ihr Lieblingsstück in Ihrem Zuhause?

Es ist nicht ein bestimmtes Stück, sondern ein Ensemble aus Raum, Farben, Formen, Einrichtung und Menschen, die die Räume füllen.

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18.11.2022
von Akvile Arlauskaite
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