hans-rudolf herren
Nachhaltigkeit Innovation Interview

Die Rückkehr zum nachhaltigen Landwirtschaftssystem

22.04.2021
von SMA

Die industrielle Landwirtschaft vergiftet seit Jahrzehnten die Natur mit Chemie und Pestiziden und bringt das gesamte System ausser Balance. Ein drastischer Wandel in Richtung einer gesunden, nachhaltigen Landwirtschaft ist an dieser Stelle laut Dr. Hans R. Herren längst überfällig.

Hans-Rdolf Herren
©Wolfang Schmidt

Dr. Hans Rudolf Herren ist ein angesehener Insektenforscher, Landwirtschafts- und Entwicklungsexperte sowie Gründer der gemeinnützigen Stiftung «Biovision». Spezialisiert auf den ökologischen Umgang mit der Landwirtschaft, bringt er jahrelange Erfahrung in biologischer Schädlingsbekämpfung mit. Im Interview mit «Fokus» erzählt er von seiner Vision eines weltweit nachhaltigen Ernährungssystems.

Herr Dr. Hans R. Herren, ursprünglich stammen Sie aus der Schweiz, waren 26 Jahre lang in Afrika tätig und leben zurzeit in Kalifornien.

Nach meinem Agronomiestudium sowie der Doktorarbeit an der ETH wurde mein zweijähriges Postdoktorat an der University of California in Berkeley vom Schweizer Nationalfonds finanziert. So verliess ich die Schweiz. Nach meinem Postdoc wanderte ich nach Afrika aus, um biologische Schädlingsbekämpfung zu betreiben. Meine Frau, die ich in Berkeley kennengelernt hatte, bewegte mich schliesslich dazu, nach Kalifornien zurückzukehren.

Weshalb haben Sie sich nach Ihrem Agronomiestudium für ein Doktorat in biologischer Schädlingskontrolle entschieden?

Als ich jung war, wollte ich Richtung Pflanzenzüchtung gehen, dazu wurde ich von dem Nobelpreisträger Norman Borlaug motiviert. Doch schlussendlich hat mich mein Professor und Mentor, Dr. Delucchi, der Entomologe und Spezialist für biologische Schädlingsbekämpfung war, inspiriert, auf dieses Feld umzusteigen. Dies hat mich schon als Kind sehr fasziniert: Auf unserer eigenen Tabakplantage erlebte ich den tragischen Umstieg von natürlicher auf chemische Landwirtschaft. Ich war damals jedes Jahr immer öfters mit der Giftspritze auf den Feldern unterwegs.

In den Achtzigern haben Sie mit Ihrer biologischen Schädlingsbekämpfungsmethode Millionen von Menschen in Afrika vor dem Hungertod gerettet.

Ich war im richtigen Moment am richtigen Ort: In Afrika bot sich die Chance, ein biologisches Programm zur Bekämpfung einer Schmierlausplage zu leiten. Maniok, eine Kartoffelpflanze, welche in den Feuchtgebieten Afrikas wächst und dort ein wichtiges Grundnahrungsmittel ist, war massiv von dem eingeschleppten Schädling bedroht. Normalerweise herrscht in der Natur fast immer und überall Gleichgewicht zwischen Schädlingen und Nützlingen.

Da die Schmierlaus in Afrika jedoch keinen natürlichen Feind hatte, breitete sie sich explosionsartig aus. So drohte eine Hungerkatastrophe für 200 Millionen Menschen in 24 Ländern! Wir fanden daraufhin heraus, dass die Schmierlaus aus Paraguay nach Afrika eingeschleppt wurde. Dort entdeckten wir dann auch den natürlichen Feind des Schädlings: die Schlupfwespe. Diese züchteten wir in Labors und verbreiteten sie anschliessend in den betroffenen Gebieten. Diesen Ansatz nennt man «klassische biologische Bekämpfung».

Hans Rudolf Herren, Präsident der Stiftung Biovision, im Gespräch über ökologische Anbau- methoden mit Bäuerinnen und Bauern auf dem Feld in Thika, Kenya. ©Biovision/Ch. Sonderegger, Rheineck
Hans Rudolf Herren, Präsident der Stiftung Biovision, im Gespräch über ökologische Anbaumethoden mit Bäuerinnen und Bauern auf dem Feld in Thika, Kenya. ©Biovision/Ch. Sonderegger, Rheineck

Auf welche Reaktionen stiess Ihre biologische Bekämpfungsmethode in Afrika?

Mein Grossprojekt stiess zunächst auf Kritik, da man sich eine derart immense biologische Bekämpfung nicht gewohnt war. Dennoch fand ich rasch Geldgeber*-
innen, welche mich unterstützten. Schwieriger war es mit Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und Behörden. Für die Einfuhr der Schlupfwespe war in jedem Land eine separate Bewilligung nötig. Dies war sehr mühsam und leider nicht immer erfolgreich. Doch die Nützlinge kennen zum Glück keine Landesgrenzen. Die Schlupfwespen verbreiteten sich über alle Landesgrenzen hinaus – mit oder ohne Visum (lacht). Auch nach 30 Jahren funktioniert dieses System immer noch perfekt. Dafür wurde ich mit dem Welternährungspreis ausgezeichnet, was mir eine grosse Ehre war.

Durch eine stärkere Nachfrage nach möglichst regionalen und mehrheitlich biologischen Lebensmitteln würden Landwirt*innen wieder diverser anbauen.

1998 haben Sie die gemeinnützige Stiftung «Biovision» gegründet. Welche konkreten Massnahmen betreibt diese für eine nachhaltige Landwirtschaft?

Biovision wurde mit dem Ziel gegründet, den Kleinbäuerinnen und -bauern in Afrika nachhaltige Landwirtschaft näherzubringen. Mit lokalen Partnern und der Bevölkerung entwickelten wir wissenschaftlich basierte Lösungen und ermöglichen damit heute Hilfe zur Selbsthilfe. Nachhaltige Landwirtschaft ist aber ebenfalls in der Schweiz ein Thema, weshalb Biovision sich auch hier dafür einsetzt. Wir sind in der Schweiz sowohl für einen Kurswechsel in der Landwirtschaft tätig wie auch für die Sensibilisierung für nachhaltigeren Konsum.

In Ihrem Buch «Transformation of our food systems: the making of a paradigm shift» argumentieren Sie für einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel im Landwirtschaftssystem.

Unser Ernährungssystem ist ein Zyklus, in dem alles zusammenhängt. Deshalb sollte die Produktion wieder in Harmonie mit der Umwelt gebracht werden. Mit der sogenannten «Grünen Revolution», die im Widerspruch zu ihrem Namen alles andere als natürlich ist, sind wir Mitte des vergangenen Jahrhunderts komplett von diesem Weg abgekommen. Wichtige Ökosystemdienstleistungen wurden in der modernen Landwirtschaft mit unnatürlichen, kommerzialisierten Produkten wie synthetischem Dünger oder Pestiziden ersetzt. Dadurch sind unsere Bienen heute stark gefährdet – Stichwort: Artenschwund – oder auch unsere Böden, deren Nährstoffzyklen durch Chemikalien zerstört werden. Deshalb ist eine Umstellung dringend nötig.

Wovon ist diese Umstellung abhängig?

Diese hängt nicht zuletzt von jeder einzelnen Person ab, mit den Entscheidungen, die sie zu ihrem Essen trifft. Durch eine stärkere Nachfrage nach möglichst regionalen und mehrheitlich biologischen Lebensmitteln würden Landwirt*innen auch wieder diverser anbauen. Ein ökologischer Wandel macht die Landwirtschaft nicht nur widerstandsfähiger gegenüber den Folgen des Klimawandels, sondern leistet sogar einen Beitrag zu dessen Bekämpfung, ebenso wie gegen die Wasserverschmutzung und das Bienensterben.

Inwiefern können einzelne Personen diesen Wandel noch weiter antreiben?

Indem wir unsere heutige Ernährungsweise ändern – weniger Fleisch und Milchprodukte beispielsweise – und indem wir die Verschwendung von Lebensmitteln drastisch reduzieren. Fast die Hälfte der Lebensmittelabfälle landet im Kehricht. Die Konsument*innen sind aber nicht alleine in der Pflicht. Es braucht auch dringend bessere Rahmenbedingungen, hier ist also die Politik gefragt. Bessere Bedingungen sind auch bei der Bildung und Forschung nötig. Es braucht beispielsweise mehr Investitionen für agrarökologische Forschung oder Themen wie biologische Bekämpfungsmethoden an den Universitäten. So kann auch das Interesse junger Studierenden dafür angekurbelt werden.

Wo sehen Sie weitere Möglichkeiten, die Rahmenbedingungen für mehr Nachhaltigkeit zu verbessern?

Ein vielversprechender Ansatz zur Unterstützung und Beschleunigung der Transformation wäre die wahrheitsgetreue Kostenrechnung. Im Grunde können wir uns die scheinbar billigen Nahrungsmittel aus der industriellen Landwirtschaft gar nicht leisten. Sie verursachen langfristig zu viele und zu hohe Folgekosten. Auf schwindelerregende zwölf Billionen US-Dollar jährlich werden die weltweiten externen Kosten für die Behebung von Gesundheits- und Umweltschäden geschätzt. Bis ins Jahr 2050 sollen diese auf 16 Billionen US-Dollar steigen! Der vermeintliche Erfolg des Modells der industriellen Landwirtschaft erfolgt sozusagen «auf Pump» zu Lasten nachfolgender Generationen, da er gravierende Umweltschäden verursacht.

Wie müsste in diesem Fall die Politik konkret vorgehen?

Das könnte zum Beispiel geschehen, indem der Gesetzgeber Lenkungsabgaben erlässt. Wie bei den Zigaretten, die heute stark besteuert werden, um sie unattraktiv zu machen. Aktuell geschieht aber genau das Gegenteil. Auf Pestizide, zum Beispiel, wird der reduzierte Mehrwertsteuersatz von 2,5 Prozent anstelle von 7,7 Prozent erhoben. Der allererste Schritt wäre also, Praktiken, die für die Umwelt schlecht sind, nicht noch zu subventionieren. Der nächste wäre dann, eine Lenkungsabgabe einzuführen, welche die Umweltfolgen und die Wissens- und Erfahrungsleistungen der Bäuerinnen und Bauern mit einberechnet. Damit für die Konsumierenden nicht einfach alles teurer wird, müssten konsequenterweise bestehende Agrarsubventionen und die Einnahmen von Lenkungsabgaben für die Förderung nachhaltiger Systeme eingesetzt werden. Nachhaltiger Konsum würde günstiger, weil er zur Norm werden würde.

Wie steht es aktuell mit der «grünen Revolution»? 

Die «Grüne Revolution» aus den 1950er Jahren wird heute wider besseren Wissens immer noch gefördert: 90 Prozent der Forschungsgelder fliessen in nicht nachhaltige Landwirtschaft. Fälschlicherweise lautet das Ziel immer noch: Möglichst viel möglichst billig zu produzieren. Die Folgen für unsere Gesundheit, die Umwelt und das Klima sind jedoch gravierend. Angesichts der zahlreichen Partikularinteressen sollte man sich vielleicht fragen, ob unsere Landwirtschaft nicht besser staatlich geregelt werden sollte. Denn der gesellschaftliche Nutzen kommt heute viel zu kurz. Die Anreize im heutigen System führen zu riesigen Profiten für Wenige. Der Weg zu einer vollkommenen, nachhaltigen Landwirtschaft ist noch lang.

Sind wir mittlerweile auf dem richtigen Weg?

Ja, ich glaube auf jeden Fall an eine Rückkehr zu natürlichen Methoden. Insbesondere, weil die gravierenden Nachteile der industriellen Landwirtschaft immer mehr Menschen bewusst werden. Die kontinuierlich wachsende Zahl der Personen, die qualitativ hochwertige, saisonale, chemikalien- und antibiotikafreie, nachhaltig produzierte Lebensmittel fordern und einkaufen, zeigt, dass diese Erkenntnis sowohl in der Schweiz wie auf der ganzen Welt mittlerweile auf fruchtbaren Boden gefallen ist und gedeiht.

Text Vanessa Bulliard, Akvile Arlauskaite Headerbild Peter Lüthi

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