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Dezentrales Arbeiten: «Die Glorifizierung von Büroarbeit ist passé»

18.06.2021
von Akvile Arlauskaite

Ob Homeoffice, Co-Working-Spaces oder Work-From-Anywhere – spätestens die Coronapandemie hat gezeigt, dass dezentrales Arbeiten eine mindestens ebenso effektive Alternative zu traditionellen Arbeitsformen sein kann. Nicole Kopp, Arbeitspsychologin und Expertin für New Work bei «Go Beyond» sowie Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Arbeits- und Organisationspsychologie SGAOP schafft einen Überblick.

Nicole Kopp, Arbeitspsychologin und Expertin für New Work bei «Go Beyond» sowie Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Arbeits- und Organisationspsychologie SGAOP

Nicole Kopp, Arbeitspsychologin und Expertin für New Work bei «Go Beyond» sowie Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Arbeits- und Organisationspsychologie SGAOP

Frau Nicole Kopp, inwiefern hat sich das Verständnis von Arbeit in der modernen Welt verändert, sodass überhaupt erst Bedarf nach dezentralen Arbeitsformen entstanden ist?

In der alten Arbeitswelt galt vielerorts «Command and Control»: Menschen wurden als unselbstständig betrachtet, ihr Entscheidungsspielraum sollte maximal beschränkt werden, damit sie ihre Arbeit korrekt abliefern. Dies erforderte klare Aufgabenverteilung und Kontrolle durch Vorgesetzte. Die moderne Arbeitswelt geht hingegen von einem selbstverantwortlich handelnden Menschen aus, der seine Arbeit einteilen, sich motivieren, falls nötig Hilfe holen und Entscheidungen treffen kann. Hierfür braucht er Selbstführung – Selbstorganisation, – motivation sowie -regulation –, statt einen Vorgesetzten, der ihm ständig über die Schulter schaut. Genau dies erlaubt dezentrale Arbeit.

Welche Vorteile bieten dezentrale Arbeitsformen für Arbeitgebende sowie Arbeitnehmende?

Erstere profitieren von einem grösseren Einzugsgebiet an potenziellen Kandidat:innen, sparen Bürokosten und können die CO2-Bilanz verbessern. Letztere geniessen zeitliche und örtliche Flexibilität, die laut Studien ihre Zufriedenheit und Produktivität erhöht. Ausserdem kommen ihnen kürzere oder wegfallende Arbeitswege, längere, ungestörte Fokuszeiten und bessere Work-Life-Balance zugute. Dies wirkt motivierend.

Wie stellt man bei dezentraler Arbeit sicher, dass der soziale Aspekt nicht zu kurz kommt?

Arbeitgebende sollen den Austausch unter Arbeitnehmenden bewusst fördern. Zum Beispiel mit regelmässigen Teamcalls, in denen auch nicht arbeitsrelevante Themen diskutiert oder die Teamzusammenarbeit und -kommunikation reflektiert werden. Viele Teams haben fixe Coffee Calls eingeführt, benutzen Apps, die zufällige Begegnungen im Büro mit einem zehnminütigen Telefonat simulieren oder organisieren mindestens einmal im Jahr eine Retraite, wo alle Arbeitnehmenden vor Ort gemeinsam arbeiten. Dies stärkt das Vertrauen ineinander.

Arbeitgebende sollen den Austausch unter Arbeitnehmenden bewusst fördern.

Wie viel Flexibilität sollte den Mitarbeitenden bei dezentraler Arbeit geboten werden?

Dies hängt stark von der Rolle ab. Besteht die Haupttätigkeit aus Koordination oder Kooperation, dann ist zeitliche, manchmal auch örtliche Synchronität nötig. Gehören Informationsrecherche oder -verarbeitung zu den wichtigsten Aufgaben, können diese zeitlich und örtlich sehr flexibel ausgestaltet werden. Arbeitnehmende stehen dann in der Verantwortung, ihre Arbeit zu erledigen. Wann und wo sie das tun, ist ihnen überlassen.

Und wie steht es mit Struktur?

Viele Arbeitnehmende mögen eine gewisse Struktur im Arbeitstag, die allerdings durch das wegfallende Pendeln oder gemeinsame Mittagessen mit den Kolleg:innen fehlt. Wird diese vermisst, sollte sie künstlich geschaffen werden, wie etwa durch kurze Spaziergänge vor der Arbeit, fixe Mittagspausen oder Sportverabredungen mit anderen Menschen.

Wie stark sollten dezentral arbeitende Angestellte kontrolliert werden?

Das Bedürfnis nach Kontrolle entsteht aus dem Proximity Bias – der falschen Annahme, dass Mitarbeitende besser arbeiten, wenn sie bei ihrer Arbeit sichtbar sind. Allerdings könnten sie trotz physischer Anwesenheit nicht arbeitsrelevante Tätigkeiten am PC ausüben, bei der Zeiterfassung schummeln oder ausgedehnte Gespräche mit Kolleg:innen halten. Vorgesetzte sollten bei dezentral arbeitenden Personen den Fokus auf Ergebnisse legen, statt zu versuchen, deren Verhalten zu kontrollieren.

Welche Herausforderungen bergen dezentrale Arbeitsformen und wie kann man diese meistern?

Diese betreffen verschiedene Ebenen. Erstens das Ausdehnen der Arbeitszeit: Arbeitnehmende müssen die Arbeit vom Privatleben selbst abgrenzen. Dies führt vielfach dazu, dass Freizeit oder Ruhezeit in potenzielle Arbeitszeit verwandelt wird. Laut Studien wird im Homeoffice häufiger auf Pausen verzichtet sowie länger gearbeitet – teils auch am Wochenende – und sogar bei Krankheit. Somit ist das mentale Abschalten schwieriger. Arbeitnehmende sollen sich deshalb klare Grenzen bezüglich Arbeitszeit und -dauer setzen und dabei bei Bedarf Unterstützung erhalten.

Zweitens die vielen Kommunikationskanäle und Erreichbarkeit: Viele Teams haben während der Pandemie eine Reihe technologischer Tools und Kanäle eingeführt. Oft ist nicht definiert, welche davon für welche Inhalte verwendet werden sollten und ob das Lesen von Nachrichten bestätigt werden muss oder nicht. Ein grosser Teil der Kommunikation läuft asynchron und schriftlich. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit für Missverständnisse. Gleichzeitig sind häufig die Erwartungen bezüglich Erreichbarkeit nicht festgelegt. Dies kann für Arbeitnehmende zusätzlichen Stress bedeuten. Insofern sollen Vorgesetzte die Erwartungen bezüglich Erreichbarkeit und der Verwendung der Tools klar kommunizieren.

Drittens das Wissensmanagement: Bei dezentralem Arbeiten ist es schwieriger, Arbeitskolleg: innen schnell um Hilfe zu bitten. Umso wichtiger ist es, dass Arbeitnehmende wissen, wer welches Wissen besitzt und keine Vorbehalte haben, Fragen zu stellen – auch über Distanz.

Ich plädiere dafür, dabei die Bedürfnisse der Arbeitnehmenden ins Zentrum zu stellen.

Wie gelingt dezentrales Arbeiten wirklich?

Ich plädiere dafür, dabei die Bedürfnisse der Arbeitnehmenden ins Zentrum zu stellen. Was brauchen sie, um gut arbeiten zu können: Eine professionellere Homeoffice-Ausrüstung? Eine Erweiterung der bestehenden Kinderbetreuung? Ein Training in den wichtigsten Tools zur Zusammenarbeit? Ein Coaching für bessere Zeiteinteilung und Selbstorganisation? Einen wöchentlichen Austausch mit den Vorgesetzten?

In welche Richtung wird sich Ihrer Meinung nach die dezentrale Arbeit in der Schweiz zukünftig entwickeln?

Ich gehe davon aus, dass dezentrale Arbeit einen viel höheren Stellenwert einnehmen wird. Vielen Arbeitgebenden ist bewusst geworden, dass diese nicht nur möglich ist, sondern auch Vorteile mit sich bringt. Ebenfalls werden die unterschiedlichen Formen von dezentraler Arbeit zunehmen. Es wird möglich sein, dass jemand im Ferienhaus oder für einige Wochen in einem anderen Land arbeitet. Die Glorifizierung von Büroarbeit ist passé.

Interview Akvile Arlauskaite

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