Interview von Kevin Meier

Selma Kuyas: «Ein starkes Netzwerk ist wie ein Passepartout»

«Die Angst vor Ablehnung führt dazu, dass wir uns verbiegen, um zu gefallen.»

Selma Kuyas ist zweifache «LinkedIn Top Voice» im Bereich Job und Karriere. Sie unterstützt Unternehmen und Bewerbende bei ihren Bewerbungsprozessen. Im Interview spricht sie über den derzeitigen Arbeitsmarkt, wie man den Weg zum Traumjob angehen kann und welche Veränderungen sie sich für die Arbeitswelt wünscht.

Selma Kuyas

Selma Kuyas, was ist ein «Traumjob»?

Einen Traumjob macht aus, dass man sich beruflich erfüllt fühlt. Man muss sich nicht verbiegen, weil er zur Person und ihren Werten passt. Es ist also mehr ein Gefühl, welches den Traumjob definiert als die konkreten Aufgaben.

Wie sind Sie dazu gekommen, anderen den Weg zum Traumjob zu ebnen?

Ich hatte das so nie beabsichtigt; der Weg hat mich gefunden. Mit 37 Jahren, nach der Geburt meines dritten Kindes, kam ich in eine Mid-Sinn-Krise. Zu dem Zeitpunkt hatte ich viele Jahre in der Telekom-Branche für die Swisscom und die British Telecom gearbeitet. Ich merkte, dass ich nicht mehr mit Produkten, sondern mit Menschen arbeiten will. So haben sich meine Bedürfnisse und Werte geändert. Wenn man älter wird, tauchen Fragen auf, die man vielleicht nicht erwartet: Was will ich mit dem Rest, also der zweiten Hälfte meines Arbeitslebens anfangen?

Welche Schwierigkeiten sehen Sie am häufigsten in Bewerbungsprozessen?

Da gibt es viele. Tief im Grunde glaube ich aber, dass es uns die Angst vor Ablehnung im Bewerbungsprozess so schwer macht. Das merkt man sehr stark, wenn man vor dem leeren Word-Dokument sitzt und den Lebenslauf schreiben soll. Einerseits will man nicht angeberisch wirken, andererseits bestehen Unsicherheiten darüber, welche Kompetenzen wirklich wichtig sind.

Die meisten handeln ihren Lebenslauf wie eine Biografie ab und sind sehr sachlich. Aus einem solchen Dokument spürt man nicht heraus, was für ein Mensch dahintersteckt. Welche einzigartigen Talente und natürlichen Stärken hat dieser Mensch? Wo hat er wahnsinnig gute Erfolge erzielt? Seit 2015 bin ich Bewerbungscoach und habe weit über tausend Menschen beraten. Was mir immer wieder auffällt: Die intensive Selbstreflexion ist ein grosser blinder Fleck. Fragen wie: Wer bin ich? Was kann ich? Wofür stehe ich? Was möchte ich?

Dass aufgrund von Lücken im Lebenslauf eine Vorverurteilung stattfindet, ist heute nicht mehr angebracht. Selma Kuyas

Darüber hinaus führt die Angst vor Ablehnung dazu, dass wir uns verbiegen, um zu gefallen. Im Vorstellungsgespräch fühlt es sich dann wie ein Verhör oder eine Ausfragerei an. Das hat damit zu tun, dass die Bewerbungsprozesse seitens der Unternehmen nicht sehr wertschätzend gestaltet sind. Die Art und Weise, wie rekrutiert wird und wie sich Menschen präsentieren müssen, ist nicht mehr zeitgemäss. Ein Beispiel sind Lücken im Lebenslauf. Die gibt es nicht. Es ist einfach das Leben, das so abgelaufen ist. Individuelle (und private) Umstände haben dazu geführt, dass jemand eine Zeit lang nicht angestellt war. Dass aufgrund dessen eine Vorverurteilung stattfindet, ist heute nicht mehr angebracht.

Wie stellt man sicher, dass sich Selbstreflexion nicht in Selbstzweifel wandelt?

Da gibt es drei wichtige Stellschrauben. Erstens muss man die Angst vor Ablehnung auszuhalten lernen. Absagen sind ein normaler Teil des Bewerbungsprozesses. Man muss sich an einem «Ja» festhalten und sich nicht von 20 «Nein» runterziehen lassen. Denn man spürt die Frustration während eines Vorstellungsgespräches oder kann sie in den Bewerbungsunterlagen zwischen den Zeilen herauslesen. Viele Zurückweisungen machen etwas mit einem. Deshalb ist es wichtig, zum Beispiel mit einem Bewerbungscoaching zu klären, auf welches Stellenprofil man sich bewerben sollte, damit es nicht zu viele Absagen gibt.

Der zweite Punkt ist etwas, das ich in der Arbeit mit meinen Kunden deutlich merke: Diejenigen, die sich wirklich ins Zeug legen, finden ihren Traumjob – auch wenn sie über 50 sind. Was viele Menschen unterschätzen: ein positives Mindset. Es führt dazu, dass man andere und bessere Entscheidungen trifft. Wenn man alles tut, was im eigenen Wirkungsbereich liegt, dann hat man alles beeinflusst, was eher früher als später zu einem Ja führt. Und wenn es dann trotzdem ein Nein geben sollte, geht man viel gelassener damit um und lässt sich nicht gleich demotivieren.

Für mich hat Mindset auch mit dem dritten Punkt zu tun: Eine gute Bewerbungsstrategie hat verschiedene Kanäle. Man baut aktiv ein Netzwerk auf, besucht Branchenevents, versucht es mit Spontanbewerbungen. Die Traumjob-Suche sollte man wie einen tatsächlichen Job behandeln, dem man die oberste Priorität gibt. Wer täglich acht Stunden in die Stellensuche und eigene Karriere investiert, der wird keine Schwierigkeiten haben, einen Job zu finden.

Gerade beim Berufseinstieg tun sich viele schwer. Wie findet man den eigenen Weg, der zu den persönlichen Stärken und Schwächen passt?

Ich würde mir wünschen, dass Jugendliche und junge Erwachsene die Möglichkeiten und Unterstützung erhalten, ihre natürlichen Talente und Stärken zu erkennen. Dafür gibt es tolle Tests und Onlineassessments, die ich auch mit meinen Kindern gemacht habe. Ein Beispiel ist explorix.ch. Man beantwortet Fragen, wodurch sich die Tendenzen und berufliche Präferenzen herauskristallisieren. So hilft der Test zu erkennen, welche Ausbildung oder welches Berufsbild zu den jungen Erwachsenen passt. Es ist aber auch wichtig, dass Jugendliche Berufsmessen und Zukunftstage besuchen, um in verschiedenes reinzuschnuppern. Viele sind aber mit den Möglichkeiten überfordert. Doch wenn die jungen Erwachsenen die Unterstützung haben, sich selbst besser kennenzulernen, können sie bessere Entscheidungen treffen.

Sich selbst zu kennen und zu wissen, was man will, ist nur ein erster Schritt. Wie kann man diese Erkenntnisse nach aussen authentisch darstellen?

Es gibt ein sehr schönes Zitat: «Menschen hören dir zu, wenn du ihnen erklärst, warum du etwas machst – nicht unbedingt, was es ist, das du machst.» Das ist der Ansatz, den ich mit meinen Bewerbungsstrategien verfolge. Selbstverständlich brauchen wir alle einen Job, um zu überleben und die Lebenskosten zu tragen. Aber am Ende des Tages muss es einen Treiber geben, weshalb man morgens aufsteht und arbeiten geht. Wenn man diese Geschichte erzählen kann – warum man vom Unternehmen, dessen Produkt, Branche oder Dienstleistung begeistert ist – dann hören die Menschen zu.

Wir müssen weg von «Human Resources» hin zum Menschen, der hinter dem Produkt «Bewerbung» steckt. Selma Kuyas

Aus diesem Grund empfehle ich Berufseinsteigerinnen und -einsteigern, die eine Diplomarbeit in der Ausbildung geschrieben haben, in ihrem Lebenslauf davon zu berichten. Das können drei bis fünf Sätze sein. Warum habe ich mich für das Thema entschieden? Was waren meine Erkenntnisse? Wie könnte ich diese Erkenntnisse im neuen Unternehmen einbringen?

Menschen sind mehr als ein Lebenslauf. Wir haben Werte, Talente und Persönlichkeit. Das möchte ich in Bewerbungen sehen. Das hilft auch Unternehmen, schneller zu erkennen, ob eine Kandidatin oder ein Kandidat zum Unternehmen und der Kultur passt. Wir müssen weg von «Human Resources» hin zum Menschen, der hinter dem Produkt «Bewerbung» steckt.

Ganz allgemein sollte man den Menschen nicht mehr als eine Ressource ansehen, sondern als ein Individuum, das sich entfalten möchte. Weiterentwicklung und Förderung sind natürliche Bedürfnisse des Menschen. Ich sage gerne: «Bring back the human to resources.» Die Menschlichkeit muss in die Personalbeschaffung und die Arbeitswelt zurückkehren. Es wundert mich nicht, dass wir einen Höchststand an Burn-outs verzeichnen. Der Mensch ist wie eine Pflanze. Eine Pflanze braucht das richtige Substrat und die optimalen Rahmenbedingungen wie Licht, Wasser und vielleicht etwas Dünger, um zu gedeihen.

Seit Corona läuft ein grösserer Teil des Bewerbungsprozesses digital ab und die künstliche Intelligenz übernimmt eine grössere Rolle im Verfahren. Inwiefern soll man die Bewerbungsstrategien anpassen? Welche Vorteile kann man daraus schöpfen?

Es gibt einiges, woran man nicht denkt. Das beginnt bei der Dokumentenverarbeitung. Bei grösseren Unternehmen ist es in der Regel so, dass man die Bewerbungsunterlagen auf ein Portal hochlädt oder ein Onlineformular ausfüllt. Hinter diesen Portalen hängen Systeme, also Maschinen für die Verarbeitung der vielen Bewerbungen. Die erste Hürde ist, dass sich viele nicht bewusst sind, dass diese Maschinen nicht alle Datei-Formate und Dokumente gleich auslesen. Was das eine System lesen kann, wird vom anderen System nicht erkannt. Es besteht die Gefahr, dass man wunderschöne Designs im Lebenslauf präsentiert, die Maschine die Textboxen oder Grafiken aber nicht interpretieren kann.

Meine Empfehlung ist, bei Traumjobs stets die Extrameile zu gehen. Man kann einen maschinenlesbaren Lebenslauf ohne Formatierung erstellen und zusätzlich ein PDF, das ansprechend anzusehen ist. Schlussendlich trifft immer noch ein Mensch die finale Entscheidung, ob die Kandidatin oder der Kandidat eingeladen wird.

Ein weiterer Vorteil der Digitalisierung des Bewerbungsprozesses sind Onlinejobinterviews. Die Unternehmen erhalten die Möglichkeit, mehr Kandidatinnen und Kandidaten einzuladen und persönlich zu sprechen. Die Koordination von solchen Treffen ist einfacher als bei persönlichen vor Ort. Zudem kommen erste informelle Calls häufiger vor. Also ein Telefongespräch von fünf bis zehn Minuten, bei denen man bereits gewisse Bedürfnisse von beiden Seiten noch vor einem Vorstellungsgespräch abholen kann. Das begrüsse ich.

Einige Menschen möchten nicht mehr einer linearen Karriereleiter folgen oder die Bedürfnisse ändern sich im Laufe der Zeit. Wie kommuniziert man dies?

Es ist ein grosser Wunsch nach Weiterentwicklung da, sowohl bei Gen Z als auch bei anderen, älteren Generationen. Dass man 15 oder 20 Jahre in einem Unternehmen bleibt, entspricht nicht mehr unserer schnelllebigen VUCA-Welt. Durch die Digitalisierung und moderne Technologien werden immer neue Kompetenzen gefordert und noch nie da gewesene Jobprofile geschaffen. Ich finde es aber wichtig, dass, wenn ich mich bewerbe, ich präsent bin und im Hier und Jetzt denke. Man soll sich schon Gedanken machen, was man in drei Jahren will, aber man sollte nicht mit der Tür ins Haus fallen und in einem Gespräch sagen, dass man nur ein Jahr bleiben will. Eine Stellenbesetzung kostet den Unternehmen viel Geld und das Know-how geht durch personelle Abgänge verloren.

Was ich mir aber vorstellen kann, sind neue Beschäftigungsmodelle, bei denen man beispielsweise innerhalb des Unternehmens verschiedene Rollen übernehmen kann. Aus meiner Sicht ist mehr interne Karriereentwicklung nötig. Nach dem Industrie- und dem Informationszeitalter befinden wir uns nun im «social» Zeitalter. Alles ist vernetzt und miteinander verzahnt. Jetzt gibt es die Möglichkeit, Karrieren flexibler und dynamischer zu gestalten.

Nehmen wir an, ich möchte in eine ganz andere Branche wechseln. Wo muss ich ansetzen, um den Quereinstieg zu schaffen?

Ich habe einen kompletten Quereinstieg aus der Telekombranche in der Privatwirtschaft in die soziale Arbeit gemacht. Dieser Quereinstieg hat mich gefunden. Denn ich hatte das Glück, über ein gutes Netzwerk zu verfügen. Meine Stelle als Jobcoach Integration habe ich via den verdeckten Stellenmarkt gefunden. Verfügt man nicht über ein solches Netzwerk, muss man in die Vorleistung gehen und sich in der Freizeit fachliches Wissen des Bereichs aneignen. Dazu muss ich wissen, was ich will und was meine Talente und Stärken sind. Es hilft natürlich, diese Vorleistung mit Kursen oder Seminaren belegen können. Was viele vergessen: Skills und Kompetenzen lassen sich in den meisten Fällen in neue Branchen oder Aufgaben übertragen. Beim Quereinstieg ist es wichtig, in der Bewerbung aufzuzeigen, wie das Unternehmen von diesen überfachlichen Qualifikationen profitiert.

Sie haben den verdeckten Stellenmarkt erwähnt. Gibt es den wirklich und wenn ja, wie kann man damit umgehen?

Den gibt es definitiv. Ich mache regelmässig Umfragen in meiner LinkedIn-Community mit über 37 000 Follower. An meinem eigenen Beispiel des Quereinstiegs und aus der Arbeit mit meinen Kunden weiss ich, dass er existiert.

Viele Unternehmen setzen auch auf den verdeckten Stellenmarkt mit Mitarbeiter-Empfehlungsprogrammen. Das hat auch wirtschaftliche Vorteile, wenn man bedenkt, wie viel eine Stellenbesetzung über Stelleninserate kostet. Es ist günstiger, «Active Sourcing» einzusetzen, indem man Spezialistinnen und Spezialisten beauftragt oder diese inhouse beschäftigt, die auf den sozialen Medien nach passenden Kandidatinnen und Kandidaten suchen. Gerade LinkedIn ist ein unglaublich mächtiges Werkzeug, um diesen verdeckten Stellenmarkt anzugehen – sowohl für Unternehmen als auch Bewerbende. Auf der Plattform kann man ein eigenes Netzwerk akquirieren und aufbauen, das bei der Stellensuche unterstützt und mitsucht.

Ein weiteres gutes Mittel sind die erwähnten Spontanbewerbungen. Die Chance ist mathematisch hoch, da es keine Mitbewerbenden gibt und man keine Stellenanforderungen erfüllen muss. Wenn man einen starken Bewegpunkt glaubhaft aufzeigen kann, stehen die Chancen sehr gut. Denn Kompetenzen sind erlernbar – Leidenschaft unbezahlbar. Eine ganzheitliche Bewerbungsstrategie aktiviert alle zur Verfügung stehenden Kanäle. Wenn ich mich nur auf klassische Stelleninserate bewerbe, minimiere ich meine Chancen.

Wenn Sie nur einen Ratschlag für den Bewerbungsprozess geben könnten, welcher wäre das?

Der Ratschlag, den ich allen mit auf den Weg geben möchte, besonders Berufseinsteigerinnen: So früh wie möglich ein berufliches Netzwerk aufzubauen. Ein starkes Netzwerk ist wie ein Passepartout, der alle Türen öffnet und einen in Krisenzeiten trägt. Dank digitaler Plattformen wie LinkedIn oder Xing war es nie einfacher als heute, ein Netzwerk zu pflegen. Das bekannte Sprichwort bringt es auf den Punkt: «Your network is your networth.»

Meine Bitte an Frauen ist, sichtbarer zu werden. Selma Kuyas

Ausserdem möchte ich ein Wort an die Frauen richten. Denn wir haben zu wenige Frauen in Führungspositionen und es gibt noch immer einen Gender-Pay-Gap sowie einen Pension-Pay-Gap. Meine Bitte an Frauen ist, sichtbarer zu werden – zum Beispiel auf LinkedIn, aber auch in Gehaltsverhandlungen. Einmal im Jahr dürft ihr neu verhandeln und beim Vorstellungsgespräch 20 Prozent mehr Gehalt verlangen, als was ihr denkt. Zudem haben wir Frauen die Tendenz, uns nur zu bewerben, wenn wir 100 Prozent der Stellenanforderungen erfüllen. Bewerbt euch auch, wenn ihr nur 60 Prozent der Anforderungen erfüllt! Damit hat man bereits eine realistische Chance auf ein Bewerbungsgespräch. Denn Recruiter machen Personen, die alles mitbringen, vermutlich kein Jobangebot. Diese Personen würden sich ziemlich schnell in der neuen Stelle langweilen, weil sie unterfordert wären und frühzeitig eine neue Stelle suchen.

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