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iStockphoto/Olga Strelnikova
Bildung

Wenn Arbeit und Privates miteinander verschmelzen

15.10.2022
von Julia Ischer

Work-Life-Balance war gestern. Heute spricht man von Work-Life-Blending. Arbeits- und Privatleben gehen ineinander über, Grenzen verschwinden. Man kann arbeiten, wo und wann man will. «Fokus» zeigt die Vorteile und Herausforderungen dieses neuen Arbeitskonzepts auf.  

Vor allem während der Pandemie und der damit verbundenen Homeoffice-Pflicht hat «New Work» einen starken Aufwind verspürt und ist seither in aller Munde. Die Gesellschaft ist inmitten eines einschneidenden Arbeitskulturwandels, den es in dieser Form seit der industriellen Revolution nicht mehr gegeben hat. Laut Leila Gisin, Arbeits-, Organisations- und Personalpsychologin sowie Dozentin an der HSLU, sind Mobilität und Flexibilität dabei die zwei Schlüsselbegriffe. Der Arbeitsplatz der Wissensarbeit wird zunehmend ortsunabhängig und die Arbeitszeiten können weitgehend auf die persönlichen Bedürfnisse angepasst werden.

Ein Aspekt des «Neuen Arbeitens», der genau auf diese beiden zentralen Begriffe eingeht, ist das Work-Life-Blending. Die in der industriellen Revolution künstlich gezogenen Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben verschmelzen oder lösen sich gar auf.

Die Bedingungen für diese Entwicklung

Die Gründe für diese Veränderung finden sich laut Gisin in der Digitalisierung, Globalisierung und beim Wissenszuwachs. Durch die neuesten Technologien ist es möglich, auch noch abends einem Zoom-Meeting beizutreten oder am Wochenende E-Mails zu beantworten. Ausserdem gibt es immer mehr globale Unternehmen, die durch die Zeitverschiebung 24 Stunden und sieben Tage die Woche arbeiten. Zudem erbringt heutzutage ein Grossteil der Menschen Wissensarbeit, für die keine Werkstatt oder Maschinen gebraucht werden. Man benötigt nur einen Laptop und WiFi.

Vorteile des Work-Life-Blendings

Das Konzept passt sich auf die Wünsche und Prozesse der Angestellten an. Das klingt vielversprechend und interessant. Zudem erhalten die Mitarbeitenden durch das Verschwimmen von Erwerbsarbeit und Privatleben mehr Verantwortung, Autonomie und Freiheit. Sie können selbst entscheiden, ob sie von Montag bis Freitag arbeiten oder lieber am Samstag ihre Aufgaben erledigen und dafür am Dienstag abwesend sind. Auch der Arbeitsplatz kann dank Homeoffice überall auf der Welt sein. Ausserdem sind die Angestellten für sich selbst verantwortlich und werden auf Augenhöhe geführt. Die Arbeitgebenden sind mehr Vorbild, Coach und Begleitperson als Vorgesetzte. 

Schwierigkeiten des Work-Life-Blendings

Das Konzept birgt aber auch einige Herausforderungen. Man muss sich selbst besser kennenlernen und seine eigenen Bedürfnisse herausfinden. «‹Wann empfinde ich Stress? Welche Aufgaben muss ich im Team besprechen? Welche Regeln benötige ich?› Das müssen wir alles neu lernen», sagt die Psychologin. Alleine sei das sehr schwierig, man müsse diesen Prozess zusammen mit den Arbeitskolleg:innen und Arbeitgeber:innen durchlaufen.   

Darüber hinaus muss Zusammenarbeit neu definiert werden. Man muss sich überlegen, welche Arten von Teamarbeit im Unternehmen überhaupt gebraucht werden. Hierzu gehört, dass man beispielsweise einen Teamtag in der Woche fixiert, an dem alle vor Ort sind und Meetings oder Workshops stattfinden. Zudem ist es von Vorteil, wenn der Kalender gut geführt und für alle sichtbar gemacht wird. «Dieser fördert so ein besseres Verständnis dafür, wer wo ist», merkt Gisin an. Hierzu betont sie, dass ein Team über sich selbst hinauswachsen und unheimlich produktiv sein kann, wenn auf individuelle Bedürfnisse Rücksicht genommen wird, aber auch gute Kompromisse gefunden werden. Ist dem nicht so, können das Arbeitsklima und der Teamgeist stark darunter leiden.

Auswirkungen auf Arbeitnehmende 

Gisin zufolge gibt es vor allem zwei Probleme, die mit Work-Life-Blending einhergehen können, wenn es falsch umgesetzt wird. Zum einen ist dies die Subjektivierung der Arbeit. Der Mensch rückt mit seinen Fähigkeiten und Kompetenzen immer stärker ins Zentrum. Dadurch kann der oder die Mitarbeiter:in nicht mehr so leicht ersetzt werden. Fällt die Person also aus, muss die Arbeit trotzdem nachgeholt und erledigt werden.

Zum anderen kann es zur interessierten Selbstgefährdung kommen. Hierbei bemerkt man bei einem selbst ein Verhalten, das die eigene Gesundheit gefährdet, weil man sich selbst aufgrund seines beruflichen Ehrgeizes zu viele Aufgaben vornimmt. Dies sei vor allem bei Arbeiten der Fall, mit welchen man sich sehr identifiziert, meint die Psychologin dazu. 

Wenn eines dieser Probleme oder gar beide auftreten, kann es dazu führen, dass zunehmend private Konflikte entstehen, weil man aufgrund der Arbeit keine Zeit mehr für das Privatleben hat und man sich nicht mehr entspannen kann. Dies geht über zu Schlafproblemen und endet im schlimmsten Fall in einem Burn-out.       

Boundary-Management als Prävention 

Um diesen Folgen entgegenzuwirken, ist es Gisin zufolge wichtig, dass Arbeitnehmende wie auch Arbeitgebende von Anfang an Kurse zum Thema Boundary-Management besuchen. Man muss lernen, wie man seine Bedürfnisse findet und wie man selbstständig Grenzen setzt. Wer mehr Autonomie und Selbstbestimmung fordert, muss aber auch bereit sein, mehr Selbstverantwortung zu übernehmen und selber darauf achten, in dieser neuen Arbeitswelt gesund unterwegs zu sein. 

Blick in die Zukunft

Momentan sind viele Unternehmen mitten in der Versuchsphase. Da ist klar, dass Fehler passieren. Ausserdem sind viele verschiedene Generationen mit diversen Vorstellungen auf dem Arbeitsmarkt. «Ich bin aber davon überzeugt, dass sich dieses Konzept einpendeln wird und die Menschen der nächsten Generationen gar nicht mehr anders arbeiten möchten», meint Gisin. Dies könne sie auch heute schon bei ihren Studierenden beobachten, die vermehrt das Bedürfnis haben, auf eine andere Art und Weise arbeiten zu wollen. Es sei eine riesige Chance für Angestellte, mehr Autonomie zu haben und das Leben selbstbestimmter auszurichten. Doch bis es so weit ist, wird es noch einige Jahre dauern. 

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