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Editorial Wohnen

«Warm» wohnen

18.11.2022
von SMA
Prof. Remo Derungs, Dipl. Innenarchitekt FH / VSI.ASAI. / SIA / SWB, Präsident VSI.ASAI. Vereinigung Schweizer  Innenarchitekten/Architektinnen

Prof. Remo Derungs
Dipl. Innenarchitekt FH / VSI.ASAI. / SIA / SWB
Präsident VSI.ASAI. Vereinigung Schweizer  Innenarchitekten/Architektinnen

Um der drohenden Energieknappheit diesen Winter entgegenzuwirken, schlägt der Bundesrat unter anderem eine maximale Raumtemperatur von 19 Grad vor. Die Vorstellung, in dickem Wollpullover schlotternd im Homeoffice zu sitzen, klingt wahrlich nicht sehr gemütlich. Wohnräume können aber auch atmosphärisch «kalt» oder «warm» sein, allerdings entziehen sich genau diese atmosphärischen Qualitäten oft der objektiven Messbarkeit. Und doch sind es gerade diese Aspekte von Räumen und Wohn(t)räumen, mit denen wir uns als Innenarchitektinnen und Innenarchitekten immer wieder von Neuem auseinandersetzen. Denn mit «Wärme» meinen die meisten von uns, dass ein Raum einladend und gemütlich, vielleicht auch authentisch und persönlich ist und gerade darum auch gerne bewohnt und benutzt wird.

Auch wenn der Lockdown während der Pandemie einschneidend war: Das Herunterfahren unserer Umtriebigkeit hat uns allen klar gemacht, dass «Wohnen» so viel mehr ist als nur ein Raum oder Räume mit Wänden, Fenstern, Türen und einem Dach. «Zeig mir dein Zuhause, und ich sage dir, wer du bist.» Für die Innenarchitektur führt diese Redewendung zu einer Erkenntnis, die wichtig ist. Sie bringt nämlich etwas sehr Wesentliches zum Ausdruck: Wohnräume sind und haben immer etwas ganz Persönliches, Individuelles und Einzigartiges. Wenn wir in unserer Arbeit Räume und Raumabfolgen entwerfen oder beratend jemanden begleiten, steht deshalb immer der Mensch mit seinen Wünschen und Bedürfnissen, seiner Lebensweise, seinen Alltagsritualen und Geschichten im Mittelpunkt. Darum gibt es auch nicht die Lösung in der guten Innenarchitektur.

Wohnräume sind und haben immer etwas ganz Persönliches, Individuelles und Einzigartiges. Prof. Remo Derungs

Nichtsdestotrotz gibt es universelle Wahrnehmungsmuster, wann wir einen Raum als angenehm empfinden. Vielleicht hat dies damit zu tun, dass wir vor vielen Tausend Jahren in Höhlen gelebt haben und dies uns Sicherheit und Geborgenheit gab. Die Neurowissenschaften konnten bestätigen, dass gewisse Wahrnehmungen und Empfindungen ganz unabhängig von den individuellen Lebensweisen und Kulturen, dem sozioökonomischem Hintergrund oder sogar Zeiten, in denen wir leben, sehr ähnlich oder gleich geblieben sind: Warme, natürliche und taktile Oberflächen und Materialien empfinden wir, mal abgesehen vom favorisierten Stil, unisono als angenehm, gemütlich oder eben als «warm», weil sie uns Geborgenheit vermitteln.

Mit dem modernen Bauen und Wohnen zu Beginn des letzten Jahrhunderts ist dieses Grundbedürfnis nach «Wärme» aus dem Fokus geraten. Helle, minimalistische, funktionale und dekorlose Räume mit glatten Oberflächen – Stichwort Bauhaus – wurden damals zum Inbegriff des zeitgemässen Wohnens. Die Architektinnen und Gestalter wollten damals aus guten Gründen mit dem unhygienischen, dunklen Mief der Arbeiterwohnungen und den überdekorierten Gründerzeitvillen mit Brokatvorhängen und Orientteppichen aufräumen. Damit haben sie das Kind mit dem Bad ausgeschüttet: Mit dem dekorativen Tand befreiten sie die Wohnräume auch von atmosphärischer Behaglichkeit. Farben – auch dunkle und intensive – und Textilien, Holzoberflächen, Accessoires und vieles mehr haben sich heute die Wohnräume, aber auch Arbeitswelten, ja sogar das Gesundheitswesen zurückerobert. Gerade hier weiss man heute, wie wichtig Licht, Formen und Farben dazu beitragen, wieder gesund zu werden. Die Rückkehr der «Wohnlichkeit» bedeutet aber nicht, dass wir in der Zeit zurückgegangen sind. Mit den smarten, energieeffizienten und ressourcenschonenden Technologien, die uns Komfort und Zeitgewinn ermöglichen, hat das Wohnen und damit auch der Beruf der Innenarchitektur ebenso enorm weiterentwickelt wie viele andere Lebensbereiche auch.

Text Prof. Remo Derungs, Dipl. Innenarchitekt FH / VSI.ASAI. / SIA / SWB, Präsident VSI.ASAI. Vereinigung Schweizer  Innenarchitekten/Architektinnen

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