Interview von Rüdiger Schmidt-Sodingen

»Chancengleichheit ist mein Herzensthema«

Frau Awet Tesfaiesus, als Direktkandidatin des Bundestagswahlkreises Werra-Meißner Hersfeld-Rotenburg wurden Sie 2021 Mitglied des Bundestages. War das für Sie ein besonderer Moment?

Frau Awet Tesfaiesus, als Direktkandidatin des Bundestagswahlkreises Werra-Meißner Hersfeld-Rotenburg wurden Sie 2021 Mitglied des Bundestages. War das für Sie ein besonderer Moment?

Ja, es war ein sehr besonderer Moment für mich und für viele Menschen aus der Schwarzen und PoC-Community. In meiner Jugend hätte ich niemals geglaubt, dass ich Politikerin werden könnte. Eine Schwarze Deutsche in der Politik war damals einfach undenkbar.

Denn im öffentlichen Leben gab es keine Menschen, mit denen ich mich wirklich identifizieren konnte. Und so ging und geht es vielen anderen Menschen heute noch. Nach meiner Wahl wusste ich, dass wir eine weitere verschlossene Tür geöffnet haben. Wir hatten es in den Bundestag geschafft! Ich hoffe, dass mein Einzug in den Bundestag vor allem auch für junge Frauen den Effekt hat, dass sie den Mut haben, sich an Orten zu sehen, an denen sie sonst niemand sieht.

Awet Tesfaiesus: «Es ist an der Zeit faschistische, rassistische und reaktionäre Strukturen zu identifizieren und zu benennen.» Was muss politisch und gesellschaftlich anders werden?

Zunächst müssen wir strukturellen Rassismus erkennen und auch als solchen benennen. Falsche Bezeichnungen wie Fremdenfeindlichkeit oder interkulturelle Inkompetenz greifen zu kurz und individualisieren ein ganzheitliches Problem. Auch das Fokussieren auf Rechtsextremismus wird Rassismus nicht bekämpfen können. Stattdessen brauchen wir mehr Aufklärung über die Ursprünge von Rassismus.

Viele Menschen wissen auch zu wenig über Deutschlands Rolle im Kolonialismus und über die Auswirkungen dieser Zeit auf die heutige Weltordnung. Hier sehe ich schulische, aber auch außerschulische Bildung in der Verantwortung.

Ich wollte zurückgeben, aber auch ein Stückweit das ausgleichen, was es vielen Ankommenden schwer macht, für ihre Rechte einzustehen.

Politik wiederum muss das dekonstruieren, was über Jahrhunderte hinweg vor allem weiße Männer privilegiert hat. Powersharing ist hier das Schlüsselwort. Daher sehe ich meine Aufgabe darin, BPoC-Communities näher in das Zentrum der Macht zu rücken und mich für echte Teilhabe aller einzusetzen. 

Sie setzen sich als Juristin seit Jahren für Geflüchtete ein – auch weil Sie selbst Fluchterfahrung haben?

Ich bin als Kind aus Eritrea nach Deutschland geflohen und in der westdeutschen Republik der achtziger Jahre aufgewachsen. Bei meiner Ankunft in Deutschland waren es Menschen im Ehrenamt, die ihre Zeit, ihr Wissen und ihre Empathie mit uns geteilt haben. Dafür bin ich bis heute sehr dankbar.

Und ja, diese Dankbarkeit, aber auch das Wissen um meine zusätzliche Expertise war ausschlaggebend für die Gründung meiner Kanzlei. Ich wollte zurückgeben, aber auch ein Stückweit das ausgleichen, was es vielen Ankommenden schwer macht, für ihre Rechte einzustehen.

Spricht man mit jungen Frauen, stellt man leider immer wieder fest, dass »Role Models« fehlen, um Diversity und Chancengleichheit auf- und alte Rollenklischees und Diskriminierung abzubauen. Wie können wir das ändern?

Als eine Frau, die vielleicht zu diesen »Role Models« gezählt wird, versuche ich meine Ressourcen zu nutzen, um Diversität voranzubringen. Dazu gehört für mich etwa, dass ich Stellen- und Praktikaausschreibungen gezielt auch an Einrichtungen verschicke, die verstärkt mit Frauen und POCs arbeiten. Sowie, dass ich in Netzwerke gehe und mich für Austausch und Mentoring zur Verfügung stelle. 

»Es gilt den sozialen Zusammenhalt auf allen Ebenen zu stärken.

Spreche ich mit jungen Feminist:innen, stelle ich mit großer Begeisterung fest, dass viele Frauen Sexismus nicht weiter hinnehmen wollen und sich ihre eigenen Netzwerke aufbauen, um so zu ihren eigenen Vorbildern zu werden. Wir brauchen starke Fürsprecher:innen, die Gleichstellung als Agenda setzen.  »Es gilt den sozialen Zusammenhalt auf allen Ebenen zu stärken.

Gemeinsam mit vielen anderen kämpfe ich für Akzeptanz und Chancengleichheit und gegen Diskriminierung. Die rechtsextremen Taten von Halle und Hanau sind extreme Beispiele dafür, was aus rassistischem Gedankengut folgen kann. Umso wichtiger ist der Einsatz für eine vielfältige und demokratische Gesellschaft geworden.«

Interview Rüdiger Schmidt-Sodingen
Bild Yvonne Sophie Thöne

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Awet Tesfaiesus wurde 1974 in Asmara, Eritrea, geboren. Ihre beiden juristischen Staatssexamen legte sie 2001 an der Universität Heidelberg und 2006 am Oberlandesgericht Frankfurt am Main ab. 2006 erhielt sie von der Rechtsanwaltskammer München die Zulassung als Rechtsanwältin, zwei Jahre später wurde sie Partnerin in einer Kanzlei.

2009 wurde Tesfaiesus Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen, drei Jahre später Beisitzerin im Parteivorstand der Kasseler Grünen. Seit 2016 ist die Anwältin Stadtverordnete und Sprecherin für Integration und Gleichstellung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Kasseler Rathaus, seit 2019 auch Stellvertretende Fraktionsvorsitzende.

Tesfaiesus ist unter anderem kooptiertes Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Migration und Flucht, stellvertretende Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Migration, Flucht und Integration sowie Vorständin des Fördervereins Hessischer Flüchtlingsrat e.V. und des Frauentreffs Brückenhof e.V.

Sie ist außerdem Gründungsmitglied des Psychosozialen Zentrums für Geflüchtete Nordhessen. In der Haushaltsdebatte des Bundestages am 23.3. setzte sich Tesfaiesus unlängst für eine postkoloniale Erinnerungskultur ein, »die einer modernen Migrationsgesellschaft gerecht wird und sich nicht von Eurozentrismus leiten lässt.

Kultur kann Brücken bauen, und so kann Deutschland Goethe und Anton Wilhelm Amo sein, Fassbinder und Fatih Akin, Ostern und Pessach und Bayram. Diese Vielfalt ist unsere Stärke.»

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19.04.2022
von Rüdiger Schmidt-Sodingen
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