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Beruflicher Neustart, bitte!

24.06.2023
von Rüdiger Schmidt-Sodingen

Von der Internistin zur Krimi-Autorin. Von der »Personaltante« zur Lehrerin. Von der Verwaltungsfachangestellten zur Selbstständigen. Immer mehr Frauen wollen in den besten Jahren einen beruflichen Neustart und um- statt aufsteigen.

Charaktere sezieren, nicht Körper. Während ihrer Schwangerschaft entdeckt die 1953 in San Diego geborene Internistin Tess Gerritsen das Schreiben. Statt sich weiter durch die Medizinfachblätter zu kämpfen, feilt sie neben dem Babybettchen an ihrer ersten Geschichte, sendet sie ein – und wird bald daraufhin zur neuen Krimi-Queen. Zurück ins Krankenhaus oder die Praxis? Auf keinen Fall!

Einer der entscheidenden Gründe für einen Berufswechsel bestehe darin, dass sich Erwachsene im Laufe ihres Lebens fragten, was ihr Job für zukünftige Generationen oder die eigenen Kinder bewirke.

So wie Gerritsen ergeht es vielen Frauen, die plötzlich umsteigen wollen, statt der trügerischen Lebenslauf-Logik zu folgen. Das Handelsblatt Research Institut und die Deutsche Vermögensberatung stellten im letzten Herbst in einer Studie mit 1021 Teilnehmer:innen im Alter von 18 bis 40 Jahren fest: 67 Prozent können sich einen Berufswechsel vorstellen. Gut ein Drittel möchte wegen familiärer Umstände wechseln. Einem weiteren Drittel ist der aktuelle Job schlicht langweilig geworden. 25 Prozent haben neue Lebensziele, weitere 25 Prozent der Befragten finden »zu wenig Anerkennung«.

Karriere vs. Sinn?

In Ihrer Masterarbeit »Berufliche Neuorientierung von Frauen in der Lebensmitte« zeigte Cornelia Berthold-Meister 2015 für das Züricher Institut für Angewandte Wissenschaften auf, wie verschiedene Frauen in der »mid career«-Phase zwischen 35 und 50 mit Berufswechseln umgehen. Dafür befragte die Autorin zehn Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen. Einer der entscheidenden Gründe für einen Berufswechsel bestehe darin, dass sich Erwachsene im Laufe ihres Lebens fragten, was ihr Job für zukünftige Generationen oder die eigenen Kinder bewirke. Dabei würden im Sinne der Entwicklungspsychologie die Ziele des frühen Erwachsenenalters hinterfragt. Eindeutig wichtigster Punkt: die Suche nach Sinn. Das, was die Japaner »Ikigai« nennen – den Grund, morgens aufzustehen.

Der Tod rückt näher, die eigenen Eltern sterben, Partnerschaften werden anders gewichtet. Gleichzeitig tauchen Kindheitsträume wieder auf. Eigene Erfahrungen gleichen die persönlichen Wünsche von früher mit den äußeren Zwängen des Arbeitslebens ab. Wem hat man sich in den letzten Jahren, unmittelbar nach der Schule bis zur Gründung einer Familie, nun mehr unterworfen – sich selbst oder den anderen?

Weiterbildung statt Hamsterrad

Im Hamsterrad der beruflichen und gesellschaftlichen Erwartungen mitzulaufen, das spüren viele Frauen mittleren Alters offensichtlich deutlich, hat seinen Preis. Beziehungen bröckeln, auch sicher geglaubte Solidaritäten. Plötzlich stellt die Chefetage eine neue, jüngere Produktmanagerin ein. Plötzlich werden diskriminierende Sprüche wegen des Alters gerissen. Plötzlich missfällt einem, wie sehr Privatleben, Überstunden und Aussehen für den Job eine Rolle spielen.

Viele Frauen haben während der Kindererziehung zudem anders oder kürzer gearbeitet und wünschen sich nun, ihre Zeit an anderen Orten zu verbringen als früher. Darunter fallen auch Menschen, die jahrelang in Pflegeberufen oder als Ärztinnen gearbeitet haben – und die Interaktion mit anderen Menschen von hastig auf ehrlich umstellen wollen.

Zu diesem Wunsch nach Ehrlichkeit und mehr Zeit gehört auch, sich noch einmal weiter- oder fortbilden zu wollen. Berthold-Meister zitiert die bereits 1987 erschienene Abhandlung »On Managing Midlife Transitions in Career and Family« von D.J. O’Connor und D.M. Wolfe. Danach strebten »vor allem die Frauen, und weniger die Männer, nach der Familienphase neue Aktivitäten und eine Rückkehr auf die Schulbank an. Sie haben oft eine hohe Motivation und setzen sich in der Ausbildung und an einem neuen Arbeitsplatz mit Enthusiasmus ein«.

Einschränkungen nicht mehr akzeptieren

Gesucht werden Jobs und Tätigkeiten, die das Selbstvertrauen fördern und Menschlichkeit nicht verkaufen, sondern wirklich zulassen. Halbwegs der Teilzeitfalle während der Erziehungszeit der Kinder entkommen, sind Frauen nun gezwungen, die Erfordernisse und Möglichkeiten des aktuellen Arbeitsmarktes zu analysieren. Also raus aus dem zeitlich eingeschränkten Job und rein in den vorgeblich chancenmäßig eingeschränkten Arbeitsmarkt?

Der Fachkräftemangel, aber auch diverse mit der Digitalisierung in Verbindung stehende neue Jobs, lassen hier einen anderen Schluss zu. Die Flucht aus dem alten Job war nie aussichtsreicher als heute. Karrieren lassen sich neu interpretieren. Schwächen und Umbrüche als Stärken sehen. Ein Loslösen von dem alten, männlichen Personaler-Denken, das Umbrüche verurteilt, Diplome anmahnt und über Teilzeit-Jahre mild lächelt, ist nicht nur möglich, sondern Pflicht, wenn es mit der Gleichberechtigung in den nächsten Jahren wirklich etwas werden soll.

Yin & Yang wagen

Das eigene Leben von mindestens zwei verschiedenen Seiten zu sehen, kann einen Neustart maßgeblich unterstützen. Jeder Übergang, so Berthold-Meister, brauche ein Abschiednehmen, eine Zeit für die Neuorientierung und dann das Ankommen im Neuen. Noch immer gilt: Lebenskrisen sind wichtig, denn sie stärken das Vertrauen in unsere individuellen Möglichkeiten. Sie lassen sich auch wunderbar reflektieren und weitererzählen, um andere Menschen zu inspirieren oder bei ihren Bemühungen für einen Neuanfang anzufeuern.
Tess Gerritsen erfand statt Yin und Yang das Team Rizzoli und Isles. »Jane und Maura sind Freundinnen, auch meine.« Sie können manchmal schwierig sein oder einen zur Weißglut treiben. Manchmal tun sie etwas gänzlich Unerwartetes – genau wie echte Menschen. »Sie sind alles andere als perfekt, aber sie sind unendlich treue und moralisch aufrechte Frauen, die stets versuchen, das Richtige zu tun. Kann man von Heldinnen mehr erwarten?«

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