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Gesellschaft Kultur

Die Definition von Wahnsinn im Laufe der Epochen

07.02.2022
von Andrea Tarantini

Fluch, Schicksal, Krankheit – der Begriff des Wahnsinns hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt. Heute wird der Begriff «Wahnsinn» oft sehr unbedacht verwendet. Aber was sind die Gründe dafür? Und wie kann Wahnsinn genau definiert werden?

Die Bedeutung von Wahnsinn ist seit jeher schwammig. Die Gesellschaft war schon immer hin- und hergerissen zwischen Faszination, Furcht und Abscheu bei gleichzeitigem Wunsch, die «Verrückten» zu schützen und zu heilen. Was die verschiedenen Epochen und Haltungen verbindet, ist die Tatsache, dass als «verrückt» immer diejenigen galten, die Verhaltensweisen an den Tag legten, welche nicht für ein Leben in der Gesellschaft geeignet waren. Die Geschichte des Wahnsinns zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Eine verrückte Vergangenheit: «Geisteskrankheit»

Im Mittelalter wurden die psychisch Kranken in sogenannten «Narrentürmen» gefangen gehalten. Das waren enge Verliese, in denen man sich kaum bewegen konnte, insbesondere dann, wenn man auf Strohbetten angekettet war. Denn zu dieser Zeit brachten viele Menschen den Wahnsinn mit Dämonen und Flüchen in Verbindung.

Ab dem 14. Jahrhundert begannen Krankenhäuser damit, den Menschen, die als verrückt galten, eigene Bereiche zu widmen. Weit entfernt von dem Bild, das wir heute von Krankenhäusern haben, fungierten diese Einrichtungen gleichzeitig als Gefängnis und als Zoo respektive Museum. Zahlreiche Einrichtungen gestatteten es den Menschen in ihrer Freizeit, zum Beispiel an Sonntagen, die «Wahnsinnigen» zu beobachten. Manchmal bezahlten die Besuchenden sogar Eintritt. Dies verdeutlicht sowohl die Angst als auch die Faszination, die psychisch Kranke in dieser Zeit auslösten.

Im 18. Jahrhundert entstanden dann die ersten Einrichtungen für psychisch Kranke. Familien – oftmals die wohlhabendsten – konnten ihre kranken Angehörigen dort einweisen lassen. Als Synonym für Geisteskrankheit wurde der Wahnsinn anhand der Männer und Frauen untersucht, denen man seine Züge zuschrieb, den Geisteskranken. Ob durch kalte Bäder, Elektroschocks, Lobotomie, Betäubungsstühle oder chemische Fixierungen – die (damals noch nur männlichen) Ärzte versuchten um jeden Preis, die Kranken zu heilen. Die psychisch Kranken wurden dabei entmenschlicht und als ein Problem betrachtet, das es zu lösen oder zu beseitigen galt, wie es auch später im Zweiten Weltkrieg noch der Fall war.

Im viktorianischen Zeitalter wurde Wahnsinn mit Unzurechnungsfähigkeit in Verbindung gebracht und als Gefahr und Bedrohung für die Rationalität verstanden. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Fragen zu diesem Thema, die vor allem durch Bücher aufgeworfen wurden. Die Definition von Wahnsinn und die Gefahr, die von ihnen ausging, zu hinterfragen, war im 19. Jahrhundert tatsächlich üblich geworden. Das ist es auch, was Lewis Carroll in seinem Buch «Alice im Wunderland» tat. Mittlerweile berühmt, unterstreicht dies der folgende Dialog deutlich:

Verrückter Hutmacher: Bin ich verrückt geworden?

Alice: Ja, ich glaube schon, Hutmacher. Aber ich verrate dir ein Geheimnis: Die meisten guten Menschen sind es.

Zwei dem Wahnsinn verfallene Frauen

Two women with mental illnesses in a lunatic asylum (circa mid 19th century). Vintage etching circa mid 19th century.

Allerdings wurde der Wahnsinn erst später, in der Nachkriegszeit, als integraler Bestandteil des menschlichen Daseins verstanden. Ein Grund dafür war die grosse Zahl von «Kriegswahnsinnigen»: Soldat:innen, die aufgrund der Gräueltaten, derer sie Zeug:in wurden, Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung aufwiesen. Daher interessierte man sich zu dieser Zeit besonders für solche Erkrankungen und die Möglichkeit, sie durch umstrittene Methoden wie die Lobotomie, aber auch durch Psychotherapien und Psychopharmaka zu heilen. Doch was wird unter Wahnsinn heute verstanden?

Eine verwirrende Gegenwart: zwischen «geistigem Wahnsinn» und «sozialem Wahnsinn»

Der Begriff «Wahnsinn» ist heute ein polysemeres Konzept, welches im Allgemeinen und wie schon in der Vergangenheit Verhaltensweisen umfasst, die gemeinhin als abnormal angesehen werden. Doch was ist die Ursache für diese Einstellungen? Die Definitionen in Wörterbüchern wie Larousse oder Le Petit Robert erklären, dass Wahnsinn eine «geistige Störung, eine Geisteskrankheit», eine «Geistesverwirrung», ein «Mangel an Urteilsvermögen» und ein «Fehlen von Vernunft» ist. Laut dem deutschen Wörterbuch Duden ist Wahnsinn eine «psychische Störung, die von Wahn (und Halluzinationen) begleitet wird».

Wie der kanadische Soziologe Marcelo Otero in «Le fou social et le fou mental: amalgames théoriques, synthèses empiriques et rencontres institutionnelles» (Der soziale Verrückte und der geistige Verrückte: theoretische Amalgamierungen, empirische Synthesen und institutionelle Begegnungen) vorschlägt, ist der heutige Wahnsinn zwischen zwei Faktoren angesiedelt: der «pathologischen geistigen Verfassung» und dem «problematischen Sozialen». Der Autor erklärt, dass «die Welten des ‹sozialen Wahnsinns› (von extremer sozialer Verwundbarkeit nahe der Desozialisierung über mehrdeutige, beunruhigende, deplatzierte, unmoralische Verhaltensweisen bis hin zu abweichendem Verhalten nahe der Kriminalisierung) und des ‹geistigen Wahnsinns›(von der formell in der Psychiatrie erfassten Geisteskrankheit bis hin zu unklaren, vorübergehend oder dauerhaft gestörten, inkohärenten, leidenden psychologischen Zuständen) untrennbar voneinander zu sein scheinen.»

Die Definition von Wahnsinn hat sich also im Laufe der Zeit verändert. Was die Epochen verbindet, ist der allgemein akzeptierte Gegensatz zwischen Wahnsinn und Vernunft. Auch wenn es heute schwierig ist, die passende Definition zu finden, ist es doch gelungen, den Blick auf Menschen, die als verrückt gelten, zu verändern: Wir verbleiben gewiss noch in der Verwirrtheit, doch sind wir um einiges menschlicher.

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