Nach ihrem Rücktritt aus dem Bundesrat kehrt Doris Leuthard ihren Anliegen keineswegs den Rücken. Sie ist in verschiedenen Verwaltungsräten vertreten und setzt sich aktiv dafür ein, die soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit zu fördern. Im Interview erklärt sie, warum alle Formen der Nachhaltigkeit relevant sind und welche Strukturen Unternehmen heute zum Erfolg führen.
Doris Leuthard, sind Sie mit dem Stand der Nachhaltigkeit (ökologisch, ökonomisch und sozial) der Schweiz zufrieden?
Ich schätze unseren Stand in allen drei Bereichen als gut ein. Die Schweiz hat die Nachhaltigkeit mit Artikel 2 und Artikel 73 schon lange als Staatsauftrag in der Verfassung verankert. In der Politik, der Wirtschaft und den Gemeinden lebt die Schweiz diese Nachhaltigkeit seit Jahren. Das beste Beispiel ist für mich immer die Recyclingkultur, also das Sammeln von Papier, Glas oder Aluminium. Aber auch der sorgsame Umgang mit dem Wald, die Betreuung von Menschen mit Behinderungen oder die Unterstützung von Menschen bei der Integration werden dem Volk gelehrt. Da ist unser Land im Vergleich zu anderen Ländern ziemlich fortschrittlich. Wir pflegen eine Kultur, die eine Gesellschaft lernt und auch als ökonomischen Wert begreifen muss, gerade wenn es um ökologische Nachhaltigkeit geht. Am Anfang bedeutete Recycling für die Wirtschaft nur zusätzliche Kosten. Das hat sich in den letzten vierzig Jahren jedoch drastisch geändert. Ich denke, dass immer mehr Menschen für dieses Thema sensibilisiert werden. Auch die Wirtschaft hat erkannt, dass es sich lohnt, frühzeitig auf Nachhaltigkeit zu setzen. Das zeigt sich unter anderem darin, dass viele börsennotierte Unternehmen ESG-Standards einhalten und die etwas ignoranten, die sich früher gegen den Wandel gewehrt haben, nun doch mitziehen müssen (lacht).
Trotz Ihres positiven Bildes der nachhaltigen Entwicklung: Wie könnte der Weg zu nachhaltigem Unternehmertum in der Schweiz über politische Massnahmen besser geebnet werden?
Der oder die Konsument:in hat einen enormen Hebel und die Industrie stellt sich sofort auf die neue Nachfrage ein, wenn wir nur noch nachhaltige Produkte kaufen. Da sind wir als Gesellschaft nicht immer so konsequent. Denn am Ende schauen viele doch wieder auf den Preis, der bei nachhaltigen Produkten meist etwas höher ist. Ich glaube auch, dass viel mit Bildung zu tun hat. Es gibt neue Technologien wie innovative Verpackungen, die in aller Munde sind. Dennoch landen gerade Hartplastik und Mikroplastik oftmals im Meer, was ein Zeichen von mangelndem Wissen ist. Doch was ist überhaupt möglich und wie viel will man in die Forschung und Entwicklung investieren? Wenn ein:e CEO oder das Management fordern, den Plastikverbrauch oder den Abfall zu reduzieren, dann sind das Faktoren, die sie beeinflussen können. Das geht aber nur, wenn man ausreichend informiert ist und die Mitarbeitenden ständig weiterbildet, damit sie bei solchen Themen up to date sind.
Oft wird nur von ökologischer Nachhaltigkeit gesprochen. Weshalb ist die ökonomische und soziale Nachhaltigkeit für die Schweizer Gesellschaft und Unternehmenslandschaft genauso wichtig?
Das geht eigentlich immer ein bisschen unter. Man kann sich als Unternehmen nicht immer danach richten, was gerade am nachhaltigsten wäre, denn die Kosten müssen auch stimmen. Zu Beginn kostet es oftmals viel Geld: So war es auch bei den Wasserstoff-Lkws, die von verschiedenen Unternehmen gemeinsam bestellt wurden. Jemand musste den Anfang machen, aber dann wurde bemerkt , dass es zu wenig grünen Wasserstoff auf dem Markt gibt. Es macht keinen Sinn, Lastwagen zu kaufen, wenn man den Treibstoff nicht bekommen kann. Das sind typische Beispiele, wo man als Unternehmen ökologisch und ökonomisch denken und handeln muss. Ich finde aber auch die soziale Komponente besonders wichtig: Weiterbildung, Inklusion und das Bewusstsein, dass nicht alle Menschen den gleichen Hintergrund und dieselbe Geschichte haben und deshalb mehr Unterstützung brauchen.
Man kann sich als Unternehmen nicht immer danach richten, was gerade am nachhaltigsten wäre, denn die Kosten müssen auch stimmen. Doris Leuthard
Welche Entwicklung zeigen Schweizer Unternehmen im Bereich der Corporate Social Responsibility?
Kinderarbeit ist ein Thema, das schon seit einiger Zeit Aufmerksamkeit erregt und nicht mit gesundem Unternehmertum in Einklang zu bringen ist. Viele Unternehmen interessieren sich für die Herkunft ihrer Produkte und die sozialen Bedingungen der Arbeitnehmenden an diesen Standorten. Dieses Interesse hat massiv zugenommen und die Unternehmen sind sich bewusst, dass es heute viele Journalist:innen und User:innen auf den sozialen Medien gibt, die schnell einen Reputationsschaden verursachen können, wenn man dort pfuscht, Menschen ausbeutet oder generell nicht den Schweizer Werten entspricht. Die Konsument:innen haben Marktmacht und wollen, dass sich die Unternehmen korrekt verhalten. Dies führt zu einem Wandel, den die Unternehmen in der Schweiz meiner Meinung nach gut umsetzen.
Wie erleben Sie die Umsetzung der Governance durch Führungspersonal in Ihren diversen Verwaltungsratsmandaten?
Hier sehe ich einen Wandel, der durch die ESG-Berichterstattung vorangetrieben wird. Die meisten Verwaltungsräte verfügen über eine Nachhaltigkeitsstrategie mit definierten Massnahmen, die jährlich diskutiert werden. Allein dieses Vorgehen fördert das Bewusstsein und die CEOs wissen, dass sie bei Nichtumsetzung abgestraft werden. Das gilt auch für börsenkotierte Unternehmen, die von Finanzanalyst:innen schlechter bewertet werden und deshalb in Ratings negativ abschneiden. Das ist ein Mehraufwand und ich bin mir bewusst, dass die Unternehmen im globalen Wettbewerb stehen. Deshalb sind auch die ökonomischen Massnahmen wichtig. Man kann nicht alles Sinnvolle umsetzen und es braucht Investitionen, die über mehrere Jahre verteilt werden müssen. Doch bei der Gleichstellung könnte es in vielen Unternehmen noch etwas schneller gehen, aber das liegt zum Teil auch an uns Frauen selbst. Ich denke aber, dass das Bewusstsein im Management vorhanden ist und die CEOs wissen, dass dies Teil der Führungsaufgabe ist.
Sie sind Jurypräsidentin des Green Business Awards. Was bedeutet die Verleihung dieses Preises für Sie?
Die Verleihung dieses Preises ist mir sehr wichtig, weil er an Start-ups geht, die bereits bewiesen haben, dass die Umsetzung gelingen kann und mit ihren Produkten schon Geld verdienen. Für mich geht es darum zu zeigen, dass man auch nachhaltig und profitabel wirtschaften kann. Ich sehe viele junge Menschen mit tollen Ideen, die klein anfangen und motiviert sind. Deshalb ist unser Preis auch ein Dankeschön und eine Motivation für andere, es ihnen nachzumachen und den Mut zu haben, es einfach auszuprobieren. Gerade für ein Land wie die Schweiz, in dem Innovation besonders wichtig ist und das Jungunternehmertum zugenommen hat, ist das für die Zukunft sehr bedeutsam.
Den jüngeren Generationen werden manchmal fehlende Arbeitsmoral und Ehrgeiz unterstellt. Dabei werden einige Unternehmen, die beim Green Business Award nominiert wurden, meistens von jungen Leuten geführt. Wie nehmen Sie die Generationsunterschiede wahr?
Ich sehe natürlich beides, aber es gibt viele, die leistungsorientiert sind und ihr Arbeitsleben einfach anders gestalten als die älteren Generationen. Die jungen Leute arbeiten vielleicht nicht von 8 bis 17 Uhr, sondern am Abend oder am Wochenende. Daran müssen wir uns anpassen und akzeptieren, dass diese Arbeitsweise flexibler und anders ist, wobei schlussendlich immer das Resultat zählt. Wir müssen hier so viel Flexibilität wie möglich bieten, aber trotzdem aufzeigen, dass wir langfristig trotzdem Leistung erbringen müssen. Denn unser Wohlstand kann nur erhalten werden, wenn die Resultate stimmen. Das ist ein Prozess und da mache ich mir keine Sorgen. Gerade durch Flexibilität kann man Menschen zur Arbeit motivieren, bei der man auch Freund:innen am Arbeitsplatz findet und andere Werte in den Vordergrund stellen muss als nur die Arbeitszeit und den Lohn.
Sehen Sie einen Unterschied zwischen grossen und kleinen Unternehmen bezüglich des Willens und der Bemühungen, nachhaltiger zu werden?
Man kann sicherlich einen Unterschied feststellen. Wenn man sich einen Überblick über die Nachhaltigkeit verschaffen will, muss man die Daten kennen. Das ist für grosse Unternehmen, die eine Nachhaltigkeitsabteilung haben, viel einfacher als für ein KMU mit weniger als 50 Mitarbeitenden. Diesen fehlt oftmals jemand, der eine spezielle Ausbildung in diesem Bereich hat und Daten erheben könnte. Deshalb muss man für KMU Verständnis haben, wenn der Wandel etwas länger dauert. Was aber nicht bedeutet, dass er für sie weniger wichtig ist! Ich kenne viele KMUs, die sich sehr bemühen und sich der Wichtigkeit bewusst sind. In erster Linie bedeutet das aber einfach zusätzliche Kosten für diese Unternehmen. Ich gehe davon aus, dass die Wirtschaftsverbände hier Unterstützung bieten können, indem sie Tools zur Verfügung stellen oder die Revisionsgesellschaften, die viel Know-how vermitteln. Hinzu kommt, dass grosse Unternehmen immer häufiger Produkte und Dienstleistungen nur dann einkaufen, wenn die KMU bestimmte Bedingungen erfüllen. Sie stehen also unter Druck, weiterhin als Lieferanten akzeptiert zu werden. Ich mache mir aber keine Sorgen, dass die KMU diese Anforderungen nicht erfüllen können.
Als Abschlussfrage: Welche Unternehmensstruktur und -kultur muss bestehen, damit eine Firma ihrer Ansicht nach nachhaltigen Erfolg haben kann?
Ich glaube, dass immer mehr Menschen, vor allem in der jüngeren Generation, bewusst auf Nachhaltigkeit und glaubwürdige Werte von Unternehmen achten. Wenn ein Unternehmen überleben will, muss es diese seriös umsetzen. Schummeln oder Greenwashing kann es sich nicht leisten. Das bedeutet aber, dass man investieren muss. Es ist ein Prozess, und wenn das Top-Management oder der Verwaltungsrat etwas vorgibt, vorlebt und durch die ganze Hierarchie hindurch schult ist man auf dem richtigen Weg. Diese Idee darf nämlich nicht nur im Management vorhanden sein, sondern muss auch in der Fabrik selbst gelebt werden. Wir bei Coop haben zum Beispiel in jeder Fabrikhalle eine Tafel, die aufzeigt, wie viel Energie oder Abfall diese Woche eingespart wurde. Das sind Erfolgserlebnisse, die die Mitarbeitenden motivieren. Sie merken, dass sie etwas Sinnvolles für die Gesellschaft, für das Unternehmen und für sich selbst leisten. Wenn man sich einsetzt und für Werte einsteht, hat man Freude an der Arbeit und das bringt die ganze Gesellschaft weiter. Wir haben nur einen Planeten und müssen letztlich alle in die gleiche Richtung arbeiten. Die Leute müssen sich bewusst sein, dass es nicht reicht, wenn nur die Schweiz alles richtig macht und um uns herum weiterhin die Umwelt verschmutzt und die Arbeitnehmenden ausgebeutet werden. Ich glaube, dass wir als Schweiz etwas mehr tun können als andere. Als reiches Land haben wir eine gewisse Verpflichtung. So können wir anderen zeigen, dass es möglich ist, eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen.
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