Wie man die Scham um das Thema Sex überwindet und weshalb Kommunikation das A und O ist – «Fokus» hat bei der Sexologin Céline Olivier nachgefragt.
Céline Olivier, viele Jugendliche verspüren rund um das Thema Sexualität grosse Scham. Weshalb?
Scham hat kulturelle, erzieherische und gesellschaftliche Ursachen. Es geht dabei vor allem um Sprachlosigkeit. Die Jugendlichen beobachten bei ihren Bezugspersonen die Mühe und Tabuisierung, mit denen das Thema konnotiert ist. Ich habe allerdings den Eindruck, dass junge Menschen heute viel offener und direkter danach fragen und dass Sex weniger tabuisiert wird. Dabei ist wichtig, dass die Erwachsenen diesen Fragen aufgeschlossen und ohne Vorurteile gegenüberstehen.
Wie kann die Körperscham überwunden werden?
Alles beginnt mit der richtigen Sprache. Geschlechtsteile sollten von Anfang an mit den richtigen Worten ohne Verniedlichungen und Bewertung benannt werden. «Penis» und «Vulva» sollten genauso gebräuchlich sein wie «Nase» und «Augen». Beispielsweise sollte das Wort «Vulvalippen» statt «Schamlippen» verwendet werden. Auch ist es wichtig, sich selbst richtig zu kennen, zu spüren und zu schätzen. Wir müssen lernen, unsere körperliche Individualität und Vielfalt zu würdigen und uns weniger am mainstreamen Idealbild eines Körpers zu orientieren. Dabei können positive Erlebnisse helfen. Unsere visuelle Wahrnehmung ist stark mit Bewertungen und Vorurteilen verbunden. Statt sich im Spiegel anzuschauen, sollte man sich lieber berühren und spüren.
Einige sind der Meinung, dass der Sexualkundeunterricht in der Schule für die sexuelle Aufklärung von Jugendlichen nicht ausreichend ist. Was fehlt dabei genau?
Der Sexualkundeunterricht ist zunächst viel zu punktuell. Jugendliche im Alter von 11 bis 13 Jahren verändern sich so schnell. Statt zwei Tagen in der Mittelstufe sollte das Thema insofern viel breiter und auch öfter zur Sprache kommen. Weiter müssen wir Sexualität unbedingt von der positiven Seite beleuchten. «Achtung Liebe» finde ich zum Beispiel keinen gut gewählten Titel für eine Organisation, die sich für die Sexualaufklärung einsetzt. Als Letztes würde ich mir inhaltlich einerseits mehr Offenheit und andererseits mehr individuelle, aktive Auseinandersetzung mit sich selbst wünschen. Das Thema nur in der Gruppe abzuhandeln, wird dem unterschiedlichen Wissens- und Entwicklungsstand der Heranwachsenden nicht gerecht.
Welche Mythen kursieren unter Jugendlichen häufig über Sexualität?
Gerade das erste Mal wird stark mystifiziert. Dadurch entstehen hohe Erwartungen, verbunden mit Ängsten, etwa vor Schmerzen beim ersten Mal. Dabei würde ein gutes Verständnis der Anatomie der Geschlechtsorgane helfen. Beispielsweise ist der Scheideneingang ja gar nicht vom Jungfernhäutchen verschlossen, was aber viele denken. Auch sind die Form und die Empfindlichkeit der Geschlechtsorgane etwas Individuelles. Man soll neugierig sein, zunächst sich selbst sowie die oder den Partner:in richtig zu entdecken. Das würde zu mehr Entspanntheit führen. Ausserdem ist Sex kein Leistungssport, sondern es geht um Erotik und Genuss. Man muss nicht bei jedem sexuellen Austausch einen Orgasmus haben. Der Weg ist das Ziel.
Weshalb ist es wichtig, über Sex zu reden?
Offen über Sex, Wünsche und Gefühle zu reden, ist eine absolute Bereicherung – für jede Beziehung und für sich selbst. Es geht nicht nur darum, über Probleme und Schwierigkeiten zu sprechen, sondern auch darum, sich selbst besser kennenzulernen und das eigene Lustpotenzial zu entdecken. Ausserdem glauben wir Menschen gerne an Stabilität und Kontinuität. Aber wir verändern uns ständig und gerade deshalb sollte auch in andauernden Partnerschaften das Thema immer wieder auf den Tisch kommen. Will man etwas Neues ausprobieren? Dann soll man die oder den Partner:in fragen, wie sie oder er dazu steht.
Wie gelingt die Kommunikation um das Thema Sex?
Durch Reflexion sowie Erkennen und Hinterfragen der eigenen Wünsche und Vorstellungen. Durch das Formulieren dieser Bedürfnisse. Und durch richtiges, aktives Zuhören. Damit meine ich, dass wir vor allem beim Thema Sex ständig in die Vorurteils- und Bewertungsfalle tappen. Man sollte aber zuerst einmal in Ruhe zuhören, dann formulieren, was man verstanden hat und anschliessend Feedback geben. Klingt kompliziert, ist am Ende aber oft erfolgreich.
Welche Themen müssen mit der oder dem Partner:in vor dem ersten Mal unbedingt besprochen werden?
Die «technischen» Themen sollten auf jeden Fall angesprochen werden, insbesondere Verhütung und Schutz. Wenn man es nicht schafft, darüber zu reden, dann ist man sicher noch nicht für das erste Mal bereit. Der andere wichtige Punkt ist eine vertrauensvolle Atmosphäre und Einvernehmlichkeit. Wenn man etwas nicht tun möchte, dann sollte man das der oder dem Partner:in auch jederzeit sagen können. Einvernehmlichkeit ist ein schwieriges Thema, aber letztendlich muss man sich in jedem Augenblick selbst treu bleiben. Und wenn es mit dem Sex nicht klappt – was übrigens auch oft passiert – dann sollte man es mit Humor nehmen.
Was ist Ihrer Meinung nach das Wichtigste, wenn es um die Intimität geht?
Neben Kommunikation ist es in einer Beziehung sehr wichtig, sich zu engagieren. Die Bereitschaft, etwas aufzubauen, stärkt die Bindung und damit auch das Vertrauen. «Bist du für mich da, wenn ich dich brauche? Kann ich mich auf dich verlassen? Bin ich dir wichtig? Akzeptierst du mich, wie ich bin? Wenn ich mich dir öffne und dir sage, was ich spüre, kannst du mir zuhören, ohne mich zu bewerten?» Das sind die Fragen, die man sich dabei stellen sollte.
Welchen Tipp würden Sie Ihrem 15-jährigen Ich in Bezug auf die Sexualität geben?
Lerne, dich selbst richtig kennen und lieben! Sexualität entwickelt sich im Laufe des Lebens. Finde regelmässig den Weg zu dir, um die Beziehung mit anderen geniessen zu können.
Ich plädiere für die Trennung von Fortpflanzung und Sexualität. Das weibliche Sexualorgan, die Vulva, hat mit der Fortpflanzung ebensowenig zu tun, wie die Vagina mit der weiblichen Sexualität. Dass wir beim berühmtem ersten Mal nur an den Vaginalverkehr denken, halte ich für fatal. Diese Haltung ist ein Relikt aus dem Patriarchat und widerspiegelt die stark penisfixierte Sexualität, in der wir gesellschaftlich noch immer verankert sind. Dadurch werden falsche Erwartungen an die Frauen gestellt und die Männer geraten unnötig unter Druck. Eine offene Kommunikation und ein besseres anatomisches Verständnis (die Vagina ist der Geburtskanal uns daher weitgehend unempfindlich) wäre die Voraussetzung für eine neue Sicht auf die Sexualität.
Tolles interview. Ich bin mit dem Gesagten grösstenteils einverstanden. Einzig bei der Aussage: „Ich habe allerdings den Eindruck, dass junge Menschen heute viel offener und direkter danach fragen und dass Sex weniger tabuisiert wird.“ habe ich gestutzt. Ich habe das Gefühl, dass unsere Gesellschaft wieder prüder und zurückhaltender wird, wenn es um Sexuelle Themen geht. Von der „sexuellen Revolution“ der 68er ist nicht mehr viel übrig geblieben.