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Inklusion statt Integration!

18.03.2020
von Lars Meier

Einen Beruf ausüben, am Leben der Gesellschaft teilnehmen und die Freizeit so gestalten wie man möchte — was für viele normal ist, fordert Menschen mit Behinderung teilweise extrem heraus. Dennoch müssen Millionen Menschen weltweit immer wieder Hürden nehmen,um so leben zu können, wie sie es wünschen. Ein Einblick darin, wie wichtig Inklusion in der heutigen Zeit ist und welche Ziele noch erreicht werden müssen.

Inklusion? Dieser Begriff dürften die meisten schon gehört haben, wissen aber nicht genau, was sich dahinter verbirgt. Noch gilt der Begriff der Integration als vermeintliches Synonym.

Worin liegt jedoch der zentrale Unterschied zwischen den beiden Begrifflichkeiten? Jonas Staub hat 2005 die Nonprofit-Organisation «Blindspot – Inklusion und Vielfaltsförderung Schweiz» gegründet. Er klärt über die beiden Begriffe auf: «Inklusion bedeutet die selbstverständliche Zugehörigkeit in alle Lebensstrukturen und Bereichen. Das heisst, es handelt sich um ein umfassendes und nachhaltiges Gesellschaftskonzept. Hingegen bedeutet Integration bloss, dass eine aussenstehende, kleine Gruppe sich in eine bestehende grosse Gruppe einfügt. Ohne eine Durchmischung, die aber notwendig für ein umfassendes Gesellschaftskonzept ist. Zwar befindet sich diese Gruppe in der Gesellschaft, aber ist nicht verschmolzen.» Aus gutem Grund sollte man heute also vermehrt der Begriff der Inklusion verwenden. Da der Fokus beim Begriff der Integration stark auf die genannte aussenstehende, kleine Gruppe gelegt wird, kann Integration als Begriff deswegen als stigmatisierend empfunden werden.

Behinderung kann viele Gesichter haben

Der Begriff der Inklusion ist aber nicht nur auf Menschen mit Behinderung bezogen. Genauso gut können andere Eigenschaften einer Person zur persönlichen Belastung werden. Beispiele dafür sind die sexuelle Orientierung oder das Geschlecht. Die Geschichten hinter etwaigen Diskriminierungen können also viele Gesichter haben. In allen Fällen gilt aber: Nie darf das geschehen!

Inklusion bedeutet die selbstverständliche Zugehörigkeit in alle Lebensstrukturen und Bereichen. Jonas Staub

Aus gesetzlicher Sicht haben Menschen mit körperlicher, geistiger oder psychischer Behinderung die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderung. 2004 trat in der Schweiz das Bundesgesetz zur Beseitigung der Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen in Kraft (BehiG). Dieses Gesetz stellt Rahmenbedingungen auf, die es Menschen mit Behinderungen unter anderem erleichtern, am Leben der Gesellschaft teilzunehmen und einen Beruf auszuüben.

Spätere Entwicklungen und die Lage heute

«Seit 2014 hat die Schweiz zudem die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) ratifiziert», führt Jonas Staub weiter aus. «Insbesondere die UNO-BRK beschreibt umfassend, wo und wie Menschen mit Behinderung in sämtliche gesellschaftliche Bereiche inkludiert werden sollen. Blindspot fällt auf, dass Massnahmen zur Umsetzung erfreulicherweise stetig vermehrt, beschlossen und umgesetzt werden. Sowohl in der Schweiz als auch weltweit.»

Mehr als 16 Jahre sind seit dem Bundesgesetz von 2004 vergangen und die Gesellschaft hat sich verändert — wie sieht die Situation für Menschen mit Behinderung heute aus?

«Noch existieren viele Hürden und Barrieren in unterschiedlichen Strukturen. Beispielsweise in der Bildung und bei der Arbeit, weil Zugehörigkeit von Menschen mit Behinderung nicht als vollumfassend betrachtet wird», fasst Jonas Staub zusammen. «Zum Beispiel gibt es für Menschen mit Behinderung kaum Weiterbildungsangebote. Diese sind aber für ein lebenslanges Lernen essenziell.»

Eine Behinderung bedeutet nicht automatisch Arbeitsunfähigkeit

Menschen mit Behinderungen können mit ihren Mitteln gleich hohe Ziele erreichen wie Menschen ohne Behinderungen: Pablo Pineda ist ein Spanier, der 2004 sein Studium in Pädagogischer Psychologie abgeschlossen hat und seit 2009 als Lehrer arbeitet. Soweit nichts aussergewöhnliches, doch Pablo Pineda hat das Down-Syndrom. Er gilt als erster Mensch überhaupt, der in Europa einen universitären Abschluss gemacht hat. Das Beispiel zeigt auf eindrückliche Weise: Wer beeinträchtigt ist, muss nicht unbedingt arbeitsunfähig sein!

Menschen mit Behinderungen können mit ihren Mitteln gleich hohe Ziele erreichen wie Menschen ohne Behinderungen.

Wie schätzt Experte Jonas Staub die aktuelle Lage bezüglich Arbeiten mit Behinderung ein? «Es bestehen wenige Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderung selbstverständlich anstellen. Hauptsächlich fehlt es an inklusiven Ausbildungs- und Arbeitsplätzen in vielen und verschiedenen Bereichen. Es mangelt an Führungspositionen, sowie Know-how für die vollumfängliche Inkludierung von Menschen mit Behinderung in den 1. Arbeitsmarkt. Ausserdem stellen wir fest, dass der Leistungsgedanke von Menschen mit Behinderung zu stark im Vordergrund steht, anstatt der Gleichwertigkeitsgedanke.» Doch nicht nur bei Arbeitgebern, auch auf der gesellschaftlichen Ebene im Allgemeinen existieren auch 2020 laut Jonas Staub noch Defizite: «Auf Ebene der Gesellschaft fehlt es an Wissen, Erfahrung und Selbstverständlichkeit im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Es braucht nun nach viel getaner Sensibilisierungsarbeit echte Bekenntnisse und Aktivierung. Zudem ist eine befähigte Gesellschaft unerlässlich, somit eine Umsetzung und das erforderliche Handeln möglich sind.»

Was muss man noch erreichen?

Auch wenn bereits viel unternommen wurde, weist Inklusion zurzeit noch einige Baustellen auf, wie Jonas Staub berichtet: «Einer der Schlüsselpunkte stellt die Subjektfinanzierung dar. Das bedeutet, dass die Möglichkeit geschaffen wird, dass die staatlichen Gelder von Menschen mit Behinderung selbstbestimmt verwaltet werden können. Also die finanziellen Mittel dort einsetzen, wo Menschen mit Behinderung arbeiten, wohnen, ihre Freizeit verbringen und Coaching erhalten möchten.» Klingt zunächst nach weitgesteckten Zielen, es ist aber dennoch möglich. Dabei ist es wichtig, im Kleinen anzufangen. In Zukunft von Inklusion statt Integration zu sprechen, könnte solch ein Anfang sein.

Text Lars Gabriel Meier

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