hämophilie
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Mit Hämophilie kann man heute (fast) uneingeschränkt leben

11.11.2021
von SMA

Hämophilie, in der Umgangssprache auch Bluterkrankheit genannt, ist eine angeborene Blutgerinnungsstörung, die weltweit ca. 1 pro 10 000 Personen treffen kann. Betroffen sind immer Männer beziehungsweise Buben. Die Leber des Betroffenen produziert zu wenig von einem Eiweiss (Protein), das für den komplexen Mechanismus der Blutgerinnung wichtig ist. Die Blutgerinnung kommt wohl in Gang, aber sie ist nicht stabil genug, sodass die Wunde oder die innere Blutung immer wieder nachblutet. In der Schweiz gibt es rund 700 Menschen mit dieser seltenen Krankheit.

Jörg Krucker Geschäftsleiter SHG

Jörg Krucker, Geschäftsleiter SHG

In der Vergangenheit hatten die Königshäuser von England und Russland durch Vererbung Bluter in ihren Reihen, Prinz Leopold z.B., Duke of Albany, lebte von 1853 – 1884. Er war das achte Kind von Queen Viktoria, der Grossmutter der aktuellen Queen.  Er starb im Alter von 30 Jahren, nachdem er bei einem Sturz auf seinen Kopf gefallen war und eine Hirnblutung erlitt. Die prominenten Opfer der Hämophilie führten dazu, dass schon früh intensiv an Therapien gegen die Gerinnungsstörung geforscht wurde.  Seit den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurden die ersten erfolgreichen Therapien mit der Verabreichung von Faktor 8- und Faktor 9-Präparaten entwickelt.

HIV und Hepatitis

Aber der Weg zu sicheren und wirksamen Medikamenten war lange und wurde von grossen Rückschlägen unterbrochen. Die 80-er Jahre waren ein Desaster für viele Menschen mit Hämophilie und auch für die Hämophilie-Gesellschaften weltweit. Plötzlich hatten Bluter untypische Symptome, die ihrer Gesundheit massiv zusetzten. In der Schweiz sind ca. ein Drittel aller Betroffenen in dieser Phase an HIV gestorben, weil zur Herstellung der Präparate Blut von Spendern verwendet wurde, welches das HI-Virus enthielt. Bis die Medizin der Ursache auf die Spur kam, waren leider schon viele infiziert. Das Leid für die Betroffenen und deren Angehörigen war immens. Der Bundesrat entschied im Dezember 1990, dass alle Betroffenen einen einmaligen Beitrag von CHF 50 000 erhalten sollen. Die involvierten Pharmafirmen, die nachweislich kontaminierte Präparate vertrieben hatten, waren bereit, zusätzlich jedem Betroffen CHF 25 000 als Finanzhilfe zukommen zu lassen. Als dritte Massnahme konnten die HIV-Infizierten Bluter von den Firmen eine lebenslange Rente von CHF 1500 beanspruchen.

Kaum war die HIV-Phase abgeebbt, hatten sich etliche Menschen mit Hämophilie in der Schweiz (und in vielen anderen Ländern) mit einem neuen Virus herumzuschlagen, dem Hepatitis C-Virus. Dieses wurde durch Spenderblut übertragen und konnte erst 1989 nachgewiesen werden. Der Verlauf nach Infizierung ist unberechenbar und chronisch. Zum Glück gibt es seit ein paar Jahren Medikamente in Tablettenform, die das Virus rasch und sicher aus dem Körper entfernen können.

Durch Schaden wird man klüger

Diese immens schwierigen Phasen hatten dazu geführt, dass man schon in den 80-er Jahren damit begann, die Medikamente einer Vireninaktivierung zu unterziehen. Später kam dann die Erkenntnis, dass man ganz auf menschliches Blutplasma verzichten wolle und nur noch im Labor gezüchtete Proteinprodukte vertreiben möchte (sog. rekombinante Faktorprodukte). Heute darf man beruhigt feststellen, dass die betroffenen Patienten absolut sichere Produkte erhalten und es keine unerwünschten Kontaminationen mehr zu verzeichnen gab.

Die Entwicklung der Medizin im Bereich der Gerinnungsstörungen ist frappant

Obwohl die Versorgung von Betroffenen heute auf einem sehr hohen Level ist, wird weiter an noch besseren Produkten geforscht. Die Hämophilie ist ein Paradebeispiel, was die Entwicklung der Medizin in den letzten Jahrzehnten für Fortschritte gemacht hat. Die Lebenserwartung eines Bluters war in den 50er-Jahren noch bei ca. 20 Jahren. Heute ist sie vergleichbar mit dem Rest der Bevölkerung. Und die Verbesserung des Gesundheitszustandes hat eben auch sehr viel Einfluss auf die psychosoziale Situation von Betroffenen. Noch in der Mitte des letzten Jahrhunderts waren Bluter einerseits körperlich stark behindert, andererseits auch stigmatisiert und Aussenseiter in der Gesellschaft. Viele konnten damals keine Lehre antreten, weil sie viele Absenzen in der Schule zu beklagen hatten. Sie waren zeitlebens Randfiguren in der Gesellschaft und die Eltern schämten sich, ihre hämophilen Buben in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Dauertherapie – ein Erfolgsgarant

Die Situation hat sich in den letzten 25 Jahren fundamental geändert. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass vor allem Leute mit einer schweren Hämophilie (Faktorlevel unter 1 Prozent eines Nichtbetroffenen) einer permanenten Therapie zugeführt werden müssen (Dauersubstitution). D.h. dass diese Betroffenen mehrmals wöchentlich den fehlenden Gerinnungsfaktor intravenös zuführen müssen, um so einen höheren durchschnittlichen Spiegel zu erreichen. Damit konnten die unliebsamen Begleiterscheinungen wie Gelenk- und Spontanblutungen auf ein recht niedriges Niveau gesenkt und somit der Allgemeinzustand massiv verbessert werden. Junge Menschen mit Hämophilie können heute Sport treiben, ein aktives Leben führen und reisen, genauso wie alle anderen Leute. Auch beruflich steht ihnen praktisch alles offen.

Uneingeschränkt – oder doch nicht ganz?

Mit der erwähnten – sehr erfreulichen – Entwicklung in der Behandlung von Menschen mit einer Hämophilie ist man in den Ländern Westeuropas und Nordamerikas dem Ziel eines uneingeschränkten Lebens schon sehr nahegekommen. Aber bestehen keine Einschränkungen oder versteckte Diskriminierungen mehr? Aus meiner Erfahrung mit zwei erwachsenen Söhnen mit einer Hämophilie und als Geschäftsleiter der Schweizerischen Hämophilie-Gesellschaft bin ich der Meinung, dass wir schon auf einem hohen Level angekommen sind. Aber es gibt noch Luft nach oben. So können Menschen mit Gerinnungsstörungen bei den meisten Krankenkassen immer noch keine Zusatzversicherungen abschliessen, obwohl das medizinisch nicht vertretbar ist. Aber mit dem Etikett «hämophil» gilt man bei den Kassen offenbar immer noch als Risikofaktor. Ebenso fast unmöglich ist es für Betroffene, eine Lebensversicherung abzuschliessen. Die Versicherer lehnen Anträge grundsätzlich ab.

Und was Menschen ohne Einschränkung oft nicht bewusst ist: Noch immer ist es in unserer Gesellschaft heikel, über seine Einschränkungen zu reden. Das gilt auch immer noch für Menschen mit einer Hämophilie, obwohl oder gerade, weil sie nicht sichtbar ist. Betroffene sind häufig im Clinch, wem und wann sie Leuten in ihrem Umfeld über die chronische Krankheit erzählen möchten, z.B. der Freundin, dem Arbeitgeber, Kollegen, Nachbarn. Aus meiner Erfahrung muss man da ein Gespür entwickeln für den richtigen Moment. Meistens ist es besser, offensiv zu informieren. Das hängt aber auch damit zusammen, wie der einzelne Betroffene zu seiner Einschränkung steht. Einer, der Mühe hat, sein Handicap zu akzeptieren, wird sich eher zurückhalten, darüber zu sprechen.

Gute Perspektiven

Zum Schluss noch einige Bemerkungen zur weiteren medizinischen Entwicklung im Bereich der Hämophilie. Zurzeit laufen diverse verschiedene Studien zur Gentherapie von Blutern. Auch in der Schweiz wird man im 2022 mit solchen Studien starten. Die Resultate sind vielversprechend. Es gelang den Forschern in Studien, Gerinnungsproteine in die Leber von Betroffenen zu bringen, sodass dort deren Produktion angestossen wurde. Der Körper wurde befähigt, selber wieder normale Gerinnungswerte herzustellen. Damit wäre der Betroffene quasi geheilt. Noch sind die Wissenschaftler daran, gewisse unerwünschte Nebeneffekte zu eliminieren. Dank der enormen Fortschritte in der Medizin ist die Hämophilie von einer ehemals lebensbedrohenden zu einer Krankheit geworden, mit der man heute gut umgehen kann und die einen in der Lebensqualität kaum mehr einschränkt.

Text: Jörg Krucker, Geschäftsleiter SHG

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