Interview von Andrina Brodbeck

«Alle Erfolge, die noch dazukommen, sehe ich als eine Zugabe»

Mountainbiken ist seine Leidenschaft und sein Beruf zugleich. Nino Schurter ist Olympiasieger, neunfacher Weltmeister sowie siebenfacher Sieger des Gesamtweltcups im Cross-Country. Im Interview verrät Nino Schurter, woher er seine Kraft schöpft und wie sich schlechtes Wetter auf sein Training auswirkt.

Nino Schurter, wie fühlen Sie sich auf die bevorstehende Saison vorbereitet?

Ich fühle mich sehr gut auf die Saison vorbereitet und freue mich auf die bevorstehenden Weltcuprennen. Ich habe mit meiner Familie zwei Monate in Südafrika verbracht, wo meine Tochter Lisa den Kindergarten besucht hat und ich die Zeit gut fürs Training nutzen konnte. Wir haben es sehr genossen.

Letztes Jahr haben Sie die Weltmeisterschaften in Italien zum neunten Mal gewonnen. Damit sind Sie nicht nur der jüngste Titelträger, sondern auch der älteste. Gibt es überhaupt noch Ziele und Erwartungen, die Sie in Ihrer Karriere erreichen wollen? 

Ja, klar. Wenn ich keine Ziele und Erwartungen mehr hätte, würde ich nicht mehr professionell fahren. Als Profisportler:in ist es wichtig, dass man sich Ziele setzt und Erwartungen an sich selbst stellt. Ich bin sehr dankbar für alles, was ich bis jetzt erreichen durfte.

Ich habe nicht mehr den Druck von mir selbst aus, dass ich alles nochmals erreichen muss.

Meine Ziele und Erwartungen haben sich aber in den letzten drei oder vier Jahren ziemlich verändert: Alle Erfolge, die noch dazukommen, sehe ich als eine Zugabe. Ich habe nicht mehr den Druck von mir selbst aus, dass ich alles nochmals erreichen muss. Ich geniesse es, ein bisschen befreiter zu sein. Natürlich hoffe ich, aufs Podest zu fahren, aber wenn es mal nicht klappt, geht für mich keine Welt unter.

Ich bin mir zudem bewusst, dass ich nicht mehr der jüngste Fahrer bin und dass es immer schwieriger wird, mich gegen Jüngere durchzusetzen – aber wenn es klappt, dann sehe ich das fast schon als mentalen Vorteil. Das ist ähnlich wie in den Jahren, als ich noch ganz jung war und mich gegen ältere Fahrer durchsetzen konnte. Jetzt, als einer der Älteren, habe ich dieses Gefühl wieder. 

Mountainbiken erlebt seit einigen Jahren einen Boom. Wie finden Sie die Entwicklung, dass sich mehr Leute denn je in den Sattel schwingen?

Sehr schön! Mir liegt sehr viel an dem Sport und ich teile diese Leidenschaft gerne mit anderen. Ich finde es wunderbar, wenn die Menschen das Mountainbiken für sich entdecken und man den Sport gemeinsam erleben kann. Mich freut es jedes Mal, wenn ich andere Biker:innen treffe und sehe, dass sie Spass an diesem Sport haben.

Ist das auch der Grund, weswegen Sie gemeinsam mit Ralph Näf und der ÖKK die neue Cross-Country-Rennserie geplant haben, die dieses Jahr startet? 

Der MTB-Sport liegt mir sehr am Herzen. Gerade in der Schweiz können wir direkt von zu Hause aus in die schöne Natur und brauchen dazu nicht mal eine Infrastruktur. Ich möchte diese Freude am Sport mit mehr Menschen teilen können. Deshalb und weil wir das Gefühl hatten, dass es neben dem Swiss Cup noch Platz für eine weitere Rennserie in der Schweiz gibt, ist die Idee von der ÖKK Bike Revolution entstanden.

Das Wetter gehört dazu – es ist ein Outdoorsport.

Aber vor allem ist uns wichtig, dass die MTB-Familie wieder zusammenkommt. Denn es gibt so viele verschiedene Disziplinen und separate Events. Unser Ziel ist es deshalb, den Breiten- und Spitzensport wieder zusammenzuführen und dass sich alle an einem Event treffen können. 

Die Natur ist Ihr Arbeitsplatz. Was bedeutet das für Sie und Ihren Trainingsplan, wenn es regnet oder gar stürmt?  

Das Wetter gehört dazu – es ist ein Outdoorsport. Unsere Rennen finden bei jeder Witterung statt und werden auch bei extremen Bedingungen nie abgesagt. Aus diesem Grund trainiere ich manchmal auch bei sehr schlechtem Wetter draussen.

Aber es muss immer abgewogen werden, denn wenn man draussen trainiert und danach erkältet ist, hat man nichts davon. Wenn es kalt und regnerisch ist, mache ich deshalb keine langen Einheiten draussen, sondern eher kürzere und verschiebe die langen auf Tage, an denen das Wetter wieder besser ist. 

Chur liegt inmitten der Berge. Würden Sie da auch wohnen, wenn Sie die Berge nicht fürs Training bräuchten? 

Ich fühle mich in den Bergen zu Hause. Chur ist für mich der perfekte Wohn- und Ausgangsort für alle Aktivitäten, die ich gerne ausübe. Auch wenn der Radsport nicht mein Job wäre, würde ich alles, was ich jetzt fürs Training mache, als Hobby machen.

Langlaufen und Skitouren im Winter, Wandern im Sommer – das sind alles Aktivitäten, denen ich ohnehin gerne nachgehe. Ich bin in den Bergen aufgewachsen und muss, glaube ich, immer Berge um mich herum haben. 

Graubünden ist ein Naturparadies. Was verbindet Sie nebst dem Mountainbiken mit der Natur? 

Ich schöpfe sehr viel Kraft, wenn ich in der Natur bin. Auf dem Mittenberg oberhalb von Chur setze ich mich gerne hin, verschnaufe und geniesse die Zeit. Solche Momente geben einem sehr viel Kraft. Wenn ich nicht in der Natur trainieren könnte, dann würde ich diesen Sport wahrscheinlich nicht treiben.

Sie haben den Mittenberg erwähnt. Ist das Ihr Lieblingsort in der Natur?

Ich wohne gleich unterhalb des Mittenbergs und jogge sowie fahre mit dem Velo mehrmals wöchentlich hinauf. Es ist ein Ort, an den ich sehr gerne hingehe und der auch fürs Training passend ist.

Auf dem Mittenberg hat man eine schöne Aussicht und trifft viele Menschen. Es gibt aber auch andere Orte in der Natur, an die ich immer wieder mal hingehe. Das ist eben das Schöne am Biken: Man ist so schnell an so vielen schönen Orten. In kurzer Zeit kann eine grosse Distanz zurückgelegt werden. 

Sie wirken beinahe in allen Situationen ruhig und fast schon gelassen. Was ist Ihr Geheimrezept?

Ich bin nicht immer ruhig und gelassen (lacht). Aber ich bin einfach nicht der Typ, der – egal ob das Resultat positiv oder negativ ist – extrem darauf reagiert. Das muss jede:r Sportler:in für sich selbst herausfinden.

Ich denke, ich habe einfach einen guten Weg entdeckt, um die Balance zu behalten. Das kommt wahrscheinlich von der Erfahrung, die ich in nun 15 Jahren professionellem Fahren gesammelt habe. Diese Zeit hat mir Gelassenheit und Sicherheit gegeben.

Ich fahre so lange, wie ich das Gefühl habe, dass ich an der Spitze mitmischen kann und das erreichen kann, was ich möchte.

Hinzukommen die Familie und das Umfeld. Sie sind die Basis, um erfolgreich sein zu können, egal ob im Sport oder in einem anderen Bereich. Denn sie sorgen dafür, dass man sich zu Hause fühlt und sich dort entfalten kann, wo man sich wohlfühlt.

Auf Ihrem Instagram-Kanal haben Sie kürzlich angekündigt, dass Sie die Reise mit Scott-Sram bis 2024 weitergehen werden. Bedeutet das demnach, dass ein Rücktritt bis dahin ausser Frage steht?

Ich fahre so lange, wie ich das Gefühl habe, dass ich an der Spitze mitmischen kann und das erreichen kann, was ich möchte. Wenn es im Cross-Country-Weltcup nicht mehr geht, würde ich meine Ziele auf andere Rennen setzen. Zum Beispiel auf Langdistanzrennen wie der Cape Epic oder Swiss Epic.

Aber bis jetzt bin ich immer noch sehr motiviert und habe das Gefühl, dass ich ganz vorne dabei sein kann und solange ich so empfinde, werde ich das auch machen. Es ist sicher, dass ich bis 2024 eine Struktur habe und mit dem Scott-Sram-Team, das mir mittlerweile seit 20 Jahren zur Seite steht, unterwegs sein werde. Wenn weiterhin alles gut läuft, werde ich 2024 hoffentlich nochmals an den Olympischen Spielen in Paris teilnehmen. 

Letztes Jahr haben Sie erfolgreich die Privatpiloten-Lizenz abgeschlossen und verbringen viel Zeit mit Helikopterfliegen. Wird das Fliegen immer nur ein Hobby sein?

Das Fliegen fasziniert mich sehr und macht mir Spass. Es ist etwas, das man sich über eine lange Zeit erarbeiten muss, bevor es überhaupt eine berufliche Frage sein könnte. Ich denke nicht, dass ich irgendwann Vollzeit-Helikopterpilot sein werde. Vielleicht wird das Fliegen irgendwann eine Nebentätigkeit. Momentan mache ich eine Gebirgsausbildung und wenn ich die abgeschlossen habe, werde ich vielleicht den Berufspiloten anhängen. 

Wenn Sie bestimmte Momente aus Ihrem Leben nochmals erleben könnten, welche wären es? 

Es gibt sehr viele schöne Momente, aber ich weiss nicht, ob sie immer noch schön sind, wenn man sie nochmals erleben kann. Das macht sie ja genau speziell – dass man sie nur einmal erlebt hat. Aber in sportlicher Hinsicht würde ich gerne nochmals den Olympiasieg erleben und den Moment bewusst wahrnehmen.

Denn im Geschehen fühlen sich die grossen Erfolge nicht so an, wie man sich diese vorstellt, da man völlig im Rennfieber steckt. Einer der schönsten Momente in sportlicher Hinsicht war zudem die Heim-Weltmeisterschaft auf der Lenzerheide 2018, die ich gewonnen habe. Diese Stimmung würde ich schon nochmals gerne erleben.

Zum Abschluss und nachdem wir über Ihre Stärken gesprochen haben: Gibt es auch etwas, in dem Sie schlecht sind?

Ja, vieles (lacht). Im Fussball zum Beispiel bin ich eine Katastrophe. Man darf sich aber nicht darauf fixieren, sondern das nutzen, was man kann. Ich habe das Glück, dass ich den Sport gefunden habe, in dem ich eben gut bin.

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Bild Scott SRAM

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31.05.2022
von Andrina Brodbeck
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