Interview von SMA

«Maschinen werden uns nicht ersetzen»

Rainer Baumann wechselte von Swiss Re zum Migros-Genossenschafts-Bund, wo er die Leitung des Departements Technologie, Informatik & Logistik mit rund 2400 Mitarbeitenden übernahm. Im Interview bezeichnet er sich selbst als «Migros-Kind».

Rainer Baumann, was fasziniert einen SwissRe-Versicherungsmann am Migros-Detailhandel?

Ich habe mich schon immer für Technologie und die Ingenieurwissenschaften interessiert. Die Migros-Gruppe ist sehr breit aufgestellt: Sie ist Detailhändlerin, Bank, Gesundheitsberaterin, Kulturförderin, Reiseveranstalterin und ganz viel mehr.

Durch alle Bereiche zieht sich das Engagement für Nachhaltigkeit. Was die SwissRe schon hinter sich hat, steht der Migros noch bevor: Wir sind auf dem Weg, ein technologie- und datenlastiges Unternehmen zu werden.

Kann man denn SwissRe-Errungenschaften 1:1 in die Migros-Welt verpflanzen?

Es gibt ganz viele Ähnlichkeiten. Ich verwende etwa Instrumente und Technologien, welche moderne Arbeitsmethoden und effizientes Schaffen erfordern.

Es gibt aber auch technische Basiselemente wie etwa die Enterprise-Architektur oder Security-Themen, welche seit eineinhalb Jahren auch im Migros-Kontext wichtig geworden sind. Aber auch eine Operations-Unit ist stark finanzmarktorientiert. Und der Kampf um gute Arbeitskräfte, der «War for Talent», ist hierzulande riesig.

Welche Technologie fasziniert Sie denn persönlich?

Nun, kurzfristig fasziniert mich der digitale Wandel in der ganzen Breite. Vor zehn Jahren wurde dieser noch stiefmütterlich betrachtet. Langfristig glaube ich insbesondere an Künstliche Intelligenz, welche tiefgreifende Veränderungen in der Branche sowie allgemein in unserem Leben zur Folge haben wird.

Als Ingenieur fasziniert mich die Quantum Computation (Quantum Computer verringern die Berechnungszeit für viele mathematische und physikalische Problemstellungen) am allermeisten.

In zehn Jahren muss die gesamte heutige Sicherheitsinfrastruktur erneuert werden.

Als ich mich vor 20 Jahren erstmals damit befasst habe, war dies noch pure Spielerei. Heute ist das ganz anders. Schon in fünf Jahren werden wir Quantum-Computer haben, welche die heutigen Verschlüsselungsalgorithmen brechen werden.

In zehn Jahren muss die gesamte heutige Sicherheitsinfrastruktur erneuert werden. Hier findet ein regelrechter technischer Paradigmenwechsel statt. Das fasziniert mich extrem, weil es die Grundfesten der Technologie erschüttert.

Die Migros ist genossenschaftlich organisiert und hat viele Instanzen. Können Sie ihre Ideen auch kurzfristig umsetzen?

Mein Fokus ist langfristig. In Operations interessieren mich die nächsten 10, 20 oder gar 30 Jahre. Wir betreiben keinen kurzfristigen Hype, sondern verändern technische Grundinfrastrukturen.

Diese müssen flexibel genug sein, um auf plötzliche Veränderungen reagieren zu können. Vergangene Attacken wie etwa diejenige auf Tegut Deutschland haben gezeigt, dass wir schweizweit eines der allerbesten Security-Teams für Non-Financial-Services haben.

Wo sehen Sie die grössten Supply-Chain-Veränderungen?

Die grösste Veränderung ist die Tatsache, dass wir informationsgesteuerter werden und die Informationen durchgängiger werden. Das erleichtert die Steuerung. Der «M Opex-Tower» (siehe Kasten) ist hier ein schönes Migros-Fallbeispiel, wie sich Warenflüsse bewegen. Wir können etwa den Weg einer Banane tracken.

Es gibt aber auch andere Bereiche, wo viel mehr Handlungsspielraum besteht. Nehmen wir zum Beispiel Früchte und Gemüse aus Südeuropa versus aus dem Schweizer Gewächshaus.

Der Transport aus Südeuropa fällt gegenüber dem Schweizer Gemüse welches viel mehr Energie erfordert, nicht ins Gewicht. So gesehen ist die Klima-Nachhaltigkeit viel besser. Geografisch sieht die Rechnung natürlich anders aus.

Sind Sie ein Migros-Kind?

Ja, das bin ich. Schon mein Grossvater hat mir von «Dutti» erzählt. Und meine Mutter ging mit mir fast jeden Mittwoch in den Duttipark in Rüschlikon.

Die Migros ist schon sehr lange sehr nachhaltig. Dahin wollen viele Firmen aktuell hin und kommunizieren diese «Nachhaltigkeit um jeden Preis» intensiv.

Mir geht es um die Ingenieur-Nachhaltigkeit, welche fakten-, zahlen- und mechanismengetrieben ist und letztlich unser Klima auch wirklich schützt. Doch dafür muss man zuerst Transparenz und Verständnis schaffen.

Wenn ich etwa weiss, wie sauber oder CO2-neutral ein Transportschiff ist, so kann ich ganz genau eruieren, wie und wo ein bestimmtes Produkt transportiert wurde. Eine solche Transparenz wird das zukünftige Supply-Chain-Management stark beeinflussen.

Was sagen Sie zu Fleisch, das nicht konsumiert wurde?

Das ist etwas vom Unschönsten. Denn wir haben Umweltfolgen, aber keinen Konsum. Hier müssen wir den Fokus noch stärker auf eine bessere Vollverwertung legen.

Wie gut kennt die Migros ihre Supply Chains?

Gerade die Coronapandemie hat gezeigt, dass die Migros eine der wenigen Firmen mit höchster Supply-Chain-Kompetenz in der Schweiz ist. Schon Gottlieb Duttweiler kaufte seine Ware vor Ort in Südamerika ein. Momentan wird die nächste Weihnachtsdekoration in Shanghai verschifft.

Wer seine Supply Chain versteht, der kann sie besser ausbalancieren.

Nun kann man ganz genau überprüfen, welche Reise die gewünschte Ware bis in die Schweiz zurückgelegt hat. So sind Geschäftsentscheidungen wie die Notwendigkeit einer lokalen Produktion viel leichter zu treffen. Oder ganz einfach: Wer seine Supply Chain versteht, der kann sie besser ausbalancieren.

Und was erwartet KMUs, welche die Migros beliefern, in puncto Supply Chain?

Hier kann es schon Veränderungen geben. Früher haben wir ein einzelnes Produkt eingekauft. Aber heutzutage kaufen wir dasselbe Produkt mit seinem digitalen Zwilling ein. Denn wir wollen alle verfügbaren Produktinformationen haben.

Diese müssen uns vom Lieferanten übermittelt werden. Dies kann von Hand erfolgen oder mittels einer Systemanpassung. Diese Informationstransparenz ist für uns der matchentscheidende Schlüssel.

Wo sehen Sie hier den Faktor «Mensch»?

Den Menschen wird es immer in sehr vielen Bereichen benötigen. Die Maschinen werden uns nicht ersetzen, sondern unterstützen. Leider haben wir aktuell viel zu wenige Technologietalente.

Die Jobs werden sich verändern, aber ihre Anzahl wird zunehmen. Und die vierte oder digitale Revolution beschleunigt diesen Prozess. Grosse technologische Veränderungen wird es bei wissensintensiven Arbeiten geben. Früher hatte man oft ein mehrköpfiges Recherche-Team, um Informationen bereitzustellen.

Diese Aufgabe erledigt ein Computer oder eine Suchmaschine heutzutage viel schneller. So gesehen macht eine Maschine hier viel mehr Sinn als etwa beim Auffüllen der Regale in den Migros-Filialen oder den Kassen, welche auch eine soziale Funktion haben.

Kaufen Sie in der Filiale ein oder lieber online?

Ich liebe es, mit dem Einkaufswagen den Wocheneinkauf in der Migros zu tätigen, frische Früchte und Gemüse einzukaufen. Im Non-Food-Bereich hat sich dies aber massiv geändert.

Ich bekomme mittlerweile fast wöchentlich zwei oder drei Digitec-Päckli mit Tech-Produkten. Für ein USB-Kabel muss ich nicht mehr in einen Laden gehen.

Was sagen Sie zur Post, die kürzlich ihre Drohnen-Transporte zwischen Labor und Spital stoppte?

Da schaue ich primär, wie reif die jeweiligen Technologien ganz unabhängig von Start-up-Anbietern sind. Dies war hier offensichtlich nicht der Fall. Wir haben auch einige wenige vollautomatische Migros-Verkaufsstellen.

Aber mir käme es nie in den Sinn, eine Migros-Filiale vollständig zu automatisieren. Der finanzielle Aufwand wäre schlicht zu gross. Dementsprechend habe ich auch viele Fragen zur Blockchain-Verwendung, die längst nicht überall Sinn macht.

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Zur Person: Rainer Baumann

Als Group COO ist Rainer Baumann für die Bereiche Technologie, Daten und Analytik, Digital, Technik, Lieferkette, Transport und Logistik verantwortlich.

Zuvor, von 2017 bis 2019, leitete er die neu geschaffene Division Group Digital and Information, die das Ziel hat, das Geschäft und die Arbeit von SwissRe zu transformieren. 2014-2017 leitete er den neu geschaffenen Shared Information Service (SIS) von SwissRe, dessen Aufgabe es war, digitale und Informationsinnovationen voranzutreiben.

Bis 2013 war Baumann ein Non-Equity-Partner im Business Technology Office von McKinsey. Als europäischer Leiter der IT-Performance-Management-, Cyber- und Digital-Praxis kümmerte er sich während vier Jahren um verschiedene Transformationsprojekte, vor allem in der Finanzdienstleistungs- und Hightech-Branche.

Zuvor arbeitete er zwei Jahre lang als Teamleiter in einem KMU und acht Jahre lang in einem kleinen IT-Start-up-Unternehmen, das innovative End-to-End-Dienste und Lösungen für KMUs anbietet.

Von 2005 bis 2015 war er Dozent für Technische Informatik und Informationssicherheit an der ETH Zürich im Departement für Informationstechnologie und Elektrotechnik.

Rainer Baumann hat einen Doktortitel in Informationstechnologie, einen Master in Informatik und zwei Masterabschlüsse in Sekundar- und Hochschulbildung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH).

Notizen zum Namen: M Opex Tower

Der «M Opex Tower» nutzt diverse Daten der Migros-Transportrouten. Dazu gehören unter anderem die Distanz der Route, die Höhenunterschiede auf der Strecke, das Gewicht der Ladung oder der Treibstoffverbrauch.

Aus diesem Datenschatz haben die Migros und die Empa (Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt) Algorithmen entwickelt, die berechnen können, welche LKW-Antriebsart für welche Strecke die umweltfreundlichste ist.

Basierend auf den Ergebnissen des «M Opex Tower» hat die Migros daraus den Multitechnologieansatz abgeleitet. Konkret bedeutet dies, dass sie auf eine Kombination von drei unterschiedlichen alternativen Antriebsformen setzt und ihre LKW-Flotte dementsprechend laufend ausbaut.

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10.06.2022
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