Was treibt Menschen dazu, sich immer wieder in die entlegensten und gefährlichsten Winkel der Erde zu wagen? Im Interview mit «Fokus» erzählt Mike Horn, welche Rituale und Gewohnheiten ihm als mentaler Anker auf seinen Reisen dienen und wie er Expeditionen im Winter angeht.
Mike Horn, Sie haben schon unzählige Expeditionen unternommen. Haben Sie interessante Aberglauben, Gewohnheiten oder Rituale entwickelt, die Sie vor einer Expedition ausüben?
Ein Ritual, das ich vor jeder Expedition pflege, ist das gemeinsame Essen mit meinem Team oder meiner Familie. Essen ist eine der ersten Annehmlichkeiten, die man in der Wildnis verliert, deshalb ist diese letzte warme und sättigende Mahlzeit etwas, das man geniessen und in Erinnerung behalten sollte. Es ist weniger Aberglaube als Erdung, es erinnert mich an die Wärme menschlicher Verbundenheit und dient als mentaler Anker.
Was haben Sie immer dabei, wenn Sie reisen, das andere überraschen könnte?
Überraschenderweise habe ich eine kleine Bibel dabei, nicht unbedingt aus religiösen Gründen, sondern weil sie eine Quelle alter Weisheiten und Sichtweisen ist. In Momenten der Isolation hilft mir das Lesen eines Textes, mich mit etwas Grösserem als mir selbst verbunden zu fühlen. Es erinnert mich an die zahllosen Entdecker:innen und Forscher:innen vor mir, die mit dem Glauben als Wegweiser ins Unbekannte aufgebrochen sind. Dieses stille Ritual des Lesens, selbst in der rauesten Umgebung, gibt mir ein Gefühl von innerem Frieden und Kraft.
Welches war der anspruchsvollste Ort, den Sie bisher erkundet haben?
Jeder Ort stellt eine besondere Herausforderung dar: Der Nordpol ist ein gefrorener Ozean, der ständig in Bewegung ist und unter den Füssen zerbricht. Im Himalaja ist der Sauerstoff knapp und jeder Schritt ist ein Kampf gegen die Atmosphäre. Im Dschungel ist die Herausforderung das unerbittliche Leben um einen herum – von giftigen Kreaturen bis zur dichten Vegetation. Aber vielleicht kommen die grössten Schwierigkeiten von den Menschen selbst, wenn man mit bürokratischen Hürden konfrontiert wird. Leute, die einem skeptisch gegenüberstehen, oder mit Einheimischen, die einem erst mal misstrauisch begegnen. Aber ob in der Natur oder in der Gesellschaft, die Anpassung und die Widerstandsfähigkeit sind meine Werkzeuge. Ich habe gelernt, dass man mit Geduld, Respekt und der Fähigkeit, sich in Echtzeit anzupassen, fast alles überwinden kann.
Gibt es überhaupt noch Orte, die auf Ihrer Bucketlist stehen? Was fasziniert Sie besonders?
Nach Jahrzehnten der Exploration gibt es immer noch Orte, die mich anziehen, wie die Tiefen des Amazonas-Regenwaldes oder die geheimnisvollen Böden der Weltmeere. Der Meeresboden ist vielleicht das letzte unerforschte Gebiet unseres Planeten und seine Geheimnisse sind faszinierend. Man stelle sich die unentdeckten Arten, die geologischen Formationen und die unberührten Ökosysteme vor, die sich unter den Wellen verbergen. Auch der Mond fasziniert mich. Er ist der nächste grosse Schritt der Menschheit und obwohl ich vielleicht nie dorthin gelangen werde, reizt mich der Gedanke, jenseits der Erdatmosphäre zu forschen. Es ist demütigend zu sehen, wie viel es noch zu entdecken gibt.
Welche Winterexpedition war für Sie besonders herausfordernd oder prägend?
Die Überquerung der Arktis über den Nordpol mit Børge Ousland war für mich eine der prägendsten Expeditionen. Wir segelten auf der Pangaea nach Norden, sanken auf 85 Grad und wanderten dann über den gefrorenen Ozean. Die Reise war voller Herausforderungen: schmelzendes Eis, wechselnde Strömungen, Polarnächte und Temperaturen, die die menschliche Ausdauer an ihre Grenzen brachten. Jeder Tag war ein Wettlauf gegen die Zeit und die Natur, denn der arktische Winter verzeiht keine Fehler. Wir schafften es gerade noch, bevor uns die Lebensmittel ausgingen, und mir wurde klar, dass eine Expedition wie diese nie wieder stattfinden wird. Derart schnell ändert sich das Klima. Diese Reise war ein Abschied von einem Teil der Welt, der vielleicht nie wieder so aussehen wird wie früher.
Wie bereiten Sie sich auf solche Winterexpeditionen vor?
Bei der Vorbereitung auf eine Winterexpedition geht es um den Aufbau von Schichten, nicht nur bei der Ausrüstung, sondern auch bei der körperlichen und mentalen Stärke. Ich erhöhe im Vorfeld meine Kalorienzufuhr, um eine zusätzliche Isolation aufzubauen, die bei den ständigen Minustemperaturen hilfreich ist. Körperlich konzentriere ich mich auf Ausdauer und Kälteresistenz und trainiere unter extremen Bedingungen, um mich anzupassen. Der Winter ist unerbittlich und man darf sich, wie bereits gesagt, keine Fehler erlauben, deshalb ist die Vorbereitung sowohl akribisch als auch anstrengend.
Was ist für Sie die grösste Belohnung bei Winterexpeditionen, trotz aller Herausforderungen?
Der Winter nimmt einem jeglichen Komfort und zwingt einen, sich ausschliesslich auf sein Können, seine Vorbereitung und seine mentale Stärke zu verlassen. Die grösste Belohnung ist die Gewissheit, sich diesen Extremen gestellt und sie überlebt zu haben, wobei nur die eigene Widerstandskraft den Ausschlag gegeben hat. Es ist demütigend und erdend zugleich, sich seiner Kleinheit in der weiten, rauen Winterlandschaft bewusst zu werden. Das Überleben im Winter fördert den Respekt vor der Kraft der Natur und ein tiefes Verständnis für die eigenen Grenzen. Die Kälte lehrt uns Geduld, Ausdauer und Anpassungsfähigkeit.
Welchen Aspekt des Winters lieben Sie besonders und auf welchen könnten Sie gut verzichten?
Ich liebe die Ruhe des Winters. Die Stille, die sich über eine verschneite Landschaft legt, in der jedes Geräusch gedämpft wird und man nur seine Gedanken und die Schönheit der Natur wahrnimmt. Winterlandschaften sind rein, unberührt und fordern uns heraus wie keine andere Jahreszeit. Worauf ich allerdings verzichten könnte, ist das unerbittliche Taubheitsgefühl, das sich in meinen Fingern breit macht. Seit ich schwere Erfrierungen erlitten habe, sind meine Extremitäten empfindlicher geworden, und dieses Unbehagen kann frustrierend sein. Aber es ist eine Erinnerung an den Preis, den man für das Abenteuer zahlt.
Gibt es eine bestimmte Winterlandschaft, die bei Ihnen einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat?
Die Gletscher Grönlands, die sich in tiefe, stille Fjorde stürzen, sind unvergesslich. Die schiere Kraft und Schönheit dieser Landschaften ist überwältigend. Wenn man dort steht, umgeben von uraltem Eis, hat man das Gefühl, ein Stück Erdgeschichte zu berühren – eine Geschichte, die langsam verschwindet. Es ist demütigend und erschütternd zugleich.
Haben Sie eine Lieblingsdestination oder eine Lieblingsaktivität, auf die Sie sich jeden Winter freuen?
Die Schweizer Alpen sind mein Zufluchtsort. Da ich in ihrer Nähe wohne, sind sie im Winter mein Zuhause geworden. Ein Ort, an dem ich abschalten und mich in der Stille der Berge verlieren kann. Beim Skifahren und Tourengehen geht es hier weniger darum, Grenzen zu überwinden, als darum, wieder mit der Natur in Kontakt zu kommen. Hier kann ich auftanken, zur Ruhe kommen und mich daran erinnern, warum ich mich in die Natur verliebt habe.
Was ist Ihre Lieblingssportart im Winter und wie hängt das mit Ihrer Entdeckerlust zusammen?
Skibergsteigen oder Skinning ist meine liebste Wintersportart. Es ist körperlich anstrengend, aber es vereint alles, was ich an der Entdeckung liebe: Ausdauer, geistige Konzentration und eine enge Verbindung zur Natur. Man liest die Umgebung, schätzt jeden Schritt ab und passt sich ständig dem Gelände an. Es ist ein Tanz mit dem Berg, eine Mischung aus Respekt und Herausforderung – genau das, worum es beim Erkunden geht.
Nach Jahrzehnten der Exploration gibt es immer noch Orte, die mich anziehen, wie die Tiefen des Amazonas-Regenwaldes oder die geheimnisvollen Böden der Weltmeere. – Mike Horn
Haben Sie Sportarten ausprobiert, die an den Orten, die Sie besucht haben, einzigartig sind? Welche war die überraschendste oder herausforderndste?
Das Hundeschlittenfahren in Grönland hat mir die Augen geöffnet. Es geht nicht nur darum, auf dem Schlitten zu stehen. Es ist eine Kunst, mit den Hunden zu kommunizieren, ihre Positionen und Persönlichkeiten zu verstehen und im Team zu arbeiten. Menschen, die ein Hundeschlittengespann lenken, werden Musher genannt. Sie haben einen tiefen Respekt vor ihren Hunden und eine Bindung, die durch gemeinsame Entbehrungen entstanden ist. Es ist eine Herausforderung, die ich nicht erwartet hätte, aber es ist eine faszinierende Mischung aus Tradition, Können und Respekt vor der Natur.
Welches versteckte Juwel oder welchen weniger bekannten Ort würden Sie abenteuerlustigen Reisenden in diesem Winter empfehlen?
Ja, ich habe es schon erwähnt, aber Grönland ist für mich einer der letzten wilden Orte der Erde. Es ist eine raue, unberührte Landschaft mit Gletschern, Fjorden und schroffen Bergen. Das Land hat etwas Mystisches, einen Reiz des Unbekannten, wo man das Gefühl hat, dass jeder Winkel ein Geheimnis birgt. Aber mehr noch: Es ist ein Ort, an dem man die Kraft der Natur in ihrer reinsten Form spüren kann. Ich hoffe, dass diese Landschaft geschützt und bewahrt wird, denn ihre Unzugänglichkeit hat etwas Magisches. Wenn man sich dorthin wagt, erlebt man die Natur so, wie sie seit Jahrtausenden ist.
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