urbanisierung lust auf mehr stadt o land?
iStockphoto/Sanga Park
Wohnen

Lust auf mehr Stadt oder Land?

18.11.2022
von SMA

Die Urbanisierung ist Bedingung für den Wohlstand und Zeichen des Wohlstandes zugleich. Die neuen Homeoffice-Möglichkeiten haben viele Menschen bestärkt, wieder aufs Land zu ziehen. Doch es wirken auch noch ganz andere Kräfte.

Seit 1995 ist die Einwohnerzahl der Schweiz gemäss dem Bundesamt für Statistik (BfS) um 18 Prozent von 7,0 auf 8,3 Millionen Menschen gestiegen. Die Neun-Millionen-Schwelle soll gemäss den aktuellen Prognosen des BFS Ende 2023 erreicht werden und 2035 soll die Zahl schon gegen zehn Millionen Einwohnende tendieren. Wer angesichts solcher Zahlen die unweigerliche Verbauung letzter Grünräume im Mittelland und die Gefährdung der alpinen Freiräume befürchtet, dem hält Avenir Suisse folgendes Gedankenspiel vor Augen: Setzt man New York an die Stelle von Zürich, London an die Stelle von Basel, Berlin an die Stelle von Bern, Paris an die Stelle von Genf und Barcelona an die Stelle von Lugano, würde die Schweiz alleine mit diesen attraktiven Metropolen der westlichen Welt auf 24 Millionen Einwohner kommen. In den restlichen Gebieten hätte es damit enorm viel Platz für die Pflege traditioneller, von «Dichtestress» verschonter Lebensstile, für reichlich Agrarland, für Naherholungsgebiete und für dünn besiedelte Berglandschaften.

Kleinteiliger CH-Föderalismus

Es stellt sich also nicht die Frage, ob die Schweiz zehn oder elf Millionen Einwohner:innen verträgt, sondern wie man diese höhere Dichte organisiert. Oder etwas konkreter: Wie man es schafft, dass sich die zusätzlichen Einwohnenden nicht in Einfamilienhäuschen über das ganze Mittelland verstreuen und zur Arbeit in die Städte pendeln, sondern dass sie sich in leistungsfähigen, attraktiven Städten konzentrieren. Zugegebenermassen bringt die Schweiz gemäss Avenir Suisse nicht die optimalen Grundvoraussetzungen dafür mit: Der kleinteilige Föderalismus (26 Kantone) und fast 2300 Gemeinden mit hoher Gemeindeautonomie erschweren eine kohärente Planung in funktionalen Räumen. Gemeinde- und Kantonsgrenzen mögen im Leben der vielen Pendler:innen keine grosse Rolle mehr spielen, in Fragen der Raum- und Siedlungsplanung tun sie es aber durchaus noch. Folgen waren ein wachsender Flächenverbrauch und eine starke Zersiedlung.

Hohe Leerstände

Und dennoch: Statt in die Städte zieht es die Menschen aktuell immer mehr in umliegende Gemeinden und ländliche Gebiete, wie die Raiffeisen Bank schreibt. In allen Regionen und Gemeindetypen sind die Wohnungsleerstände in der Schweiz 2021 gesunken – mit Ausnahme der Städte. Dies gilt insbesondere für die grössten fünf Schweizer Zentren Zürich, Genf, Basel, Bern und Lausanne. In diesen normalerweise extrem hart umkämpften grossstädtischen Wohnungsmärkten sind die Leerstände heutzutage, entgegen dem Trend, insgesamt sogar gestiegen. Neben weniger zentralen Wohnungen waren dieses Jahr auch grössere Objekte mit vielen Zimmern besonders gefragt. Während die Leerstände für Wohnungen mit drei und mehr Zimmern 2021 signifikant zurückgingen, standen mehr Ein- und Zweizimmerwohnungen leer.

Mehr Einwanderung

Die für viele wohl auch über die Pandemie hinaus realisierbar gewordene Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, führt zu einer Verlagerung der Nachfrage – weg von den Zentren hin zu eher peripheren Lagen, wie der Immobilienmarktanalyst Francis Schwartz schreibt. Weil vermehrt Zeit zu Hause verbracht und Platz für ein Heimbüro gebraucht wird, steigt parallel dazu die Nachfrage nach Wohnungen mit grösserer Fläche und Zimmerzahl. Ein grosser Teil des geringeren Bedarfs an Wohnungen in der Grossstadt und an Kleinwohnungen kann durch eine während der Pandemie veränderte Nachfrage durch Wohnungssuchende erklärt werden, die eben niemand kennt: Einwandernde.

Flucht aufs Land

Während der Coronakrise ist die Nettozuwanderung in die Schweiz zwar etwas gestiegen. Aber nur, weil deutlich weniger Menschen ausgewandert sind. Die Einwanderung von Ausländer:innen in die Schweiz nahm dagegen merklich ab. Und gerade diese Einwandernden sind bei ihrem Zuzug traditionelle Abnehmer:innen von Kleinwohnungen und Wohnungen in den Grossstädten. Schon seit Jahren wachsen die Städte nur noch durch die Einwanderung. Die inländische Wohnbevölkerung kehrt ihnen wegen der hohen Wohnkosten dagegen seit Längerem vermehrt den Rücken. Zwar hat sich dieser anhaltende Trend während der Pandemie tatsächlich etwas verstärkt. Aber es ist keineswegs so, dass nun grosse Wanderungsströme aufs Land umgelenkt worden wären. So gesehen erklärt Homeoffice, das aktuell in aller Munde ist, höchstens einen Teil der jüngsten Entwicklung in Bezug auf die Wohnungsleerstände.

Erwachen mit Vogelgezwitscher

Trendforscher:innen sind sich einig: In den USA, in Deutschland und auch in der Schweiz hat das Leben auf dem Land derzeit Hochkonjunktur. Der Glanz mancher Städte verblasst, wie newhome.ch schreibt. Die Digitalisierung ermöglicht das zeit- und ortsunabhängige Arbeiten – eben auch auf dem Dorf. Ruhe, der Blick ins Grüne und die Nähe zur Natur. Morgens erwachen mit Vogelgezwitscher und Schmetterlingen im Garten. Das erdet in unsicheren Zeiten. Individueller Freiraum und Privatsphäre sind derzeit hoch im Kurs. Das idyllische Landleben, das Dorf als Sehnsuchtsort – dies sehen heute viele Menschen als Gegenposition zum stressigen Leben in der Stadt.

Landliebe im Trend

Auch die neuesten Zahlen vom Immobilienmarkt und von Suchanfragen zeigen, dass das Landleben weiter Konjunktur hat. In den letzten Jahren verzeichnen in vielen Teilen der Schweiz attraktive Vorortsgemeinden einen überproportional starken Bevölkerungszuwachs. Zukunft hat offenbar eine Kombination von Wohnqualität, die Nähe zu Grünräumen, Wald und Landwirtschaft bei gleichzeitig guter Verkehrserschliessung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Vorheriger Artikel Die wundersame Welt der Lichter und Farben
Nächster Artikel Die (Neu-)Erfindung des Zuhauses