Interview von Linda Carstensen

Nicolas Diebold: «Den komplexen Prozess der Rechtsanwendung wird die KI wohl nicht so schnell beherrschen»

Es wird wahrscheinlich viele Jahre dauern, bis KI-Systeme in der Lage sind, die Feinheiten der Rechtsanwendung auf einem Niveau zu verstehen und zu interpretieren, das dem menschlichen Verständnis nahekommt. Das antwortet ChatGPT auf die Frage, wann KI die komplexe Anwendung von Recht beherrschen wird. 

Nicolas Diebold, Professor und Dekan der Rechtsfakultät Luzern, hat ChatGPT bereits in seinen Alltag integriert. Er blickt zurück auf seine Studienzeit, äussert sich zu den Hürden seiner akademischen Laufbahn und zeigt auf, wie die Digitalisierung den Unterricht an der Uni Luzern verändert hat.

Nicolas Diebold, verwenden Sie ChatGPT in Ihrem Alltag? 

Ich habe vor einigen Monaten GPT-4 abonniert und nutze das Tool anstelle von Google für Internetrecherchen, primär im privaten Bereich. Wie gross ist die Chance, ein Yahtzee zu würfeln? Was soll ich zum Mittagessen kochen? Welche Anbieter gibt es für Camperreisen in Neuseeland? Was ist das Bitcoin-Halving? Wie justiere ich die Heizkurve der Wärmepumpe? Solche Dinge. Im beruflichen Alltag nutze ich GPT für die Korrektur von fremdsprachigen Texten, Recherchen zu Prüfungssachverhalten oder als Inspirationsquelle für Ansprachen. Meine Publikationen schreibe ich bis jetzt noch selbst. 

Erinnern Sie sich gern an Ihre Studienzeit zurück?

Sehr, aber nicht primär wegen der Vorlesungen. Während meines Studiums in Genf habe ich das Recht nur als mechanisches Regelwerk verstanden, vielleicht auch aus sprachlichen Gründen. In Erinnerung habe ich vor allem das studentische Lebensgefühl: den Schritt vom Elternhaus in ein Studentenheim, das Entdecken einer neuen Stadt, das Kennenlernen meiner Frau, die Vorfreude auf einen tollen Job. Die Begeisterung für die Schönheit des Rechts als System ist dann erst viel später entstanden.

Wieso haben Sie Jus studiert?

Mein Berufsziel war damals ein Job im auswärtigen Dienst oder bei einer internationalen Organisation, darum stand ich gegen Ende der Kanti kurz davor, mich für ein Studium der internationalen Beziehungen einzuschreiben. Ein Berufsberater hat mir dann geraten, stattdessen Jus zu studieren und dabei auch die Westschweiz in Betracht zu ziehen. Das war wohl der wegweisendste und wichtigste Rat, den ich je erhalten und beherzigt habe.

Würden Sie es heute wieder tun?

Unbedingt! Das Studium hat mir riesige Möglichkeiten eröffnet, von denen ich kaum zu träumen gewagt hatte: Studien- und Forschungsaufenthalte in den USA und Schottland, spannende Praktika in Kanzlei, Gericht und internationalen Organisationen, berufliche Tätigkeiten als Anwalt, Bundesbeamter, Weko-Mitglied, Professor, Dekan. Ich habe meinen Beruf immer mit grosser Freude ausgeübt. So macht es mir auch nichts aus, viel Zeit dafür aufzuwenden. Gerade die Forschung fühlt sich oft gar nicht wie Arbeit an. 

Was hat Ihnen im Studium gefehlt?

Als Student habe ich das Studium als Mittel zum Zweck betrachtet, darum hatte ich auch keine besonderen Erwartungen. Ich habe leider gar nicht dem Bild eines Studenten entsprochen, den ich mir heute in meinem Hörsaal wünsche. Deshalb habe ich auch einige Chancen, die sich im Studium bieten, ungenutzt verstreichen lassen. Zu kurz gekommen ist aus heutiger Sicht das Lösen von Fällen und Verfassen von schriftlichen Arbeiten. Auswendig gelerntes Recht bringt nichts, wenn man es nicht anwenden und auf Papier bringen kann.

Warum haben Sie sich für eine Laufbahn an der Uni entschieden?

Ehrlich gesagt habe ich mir nie grosse Chancen auf eine Professur ausgerechnet und deshalb meinen beruflichen Schwerpunkt lange Zeit in der Praxis gesetzt. Gleichzeitig habe ich immer gerne publiziert und konnte dank Synergien zwischen Beruf und Forschung sowie Auslandsaufenthalten relativ effizient die Dissertation und Habilitation schreiben. Ich habe die Eigenschaft, alle Dinge im Leben sehr strukturiert und systematisch anzugehen, darum liegen mir wahrscheinlich die Forschung und auch die Lehre. Heute empfinde ich es als grosses Privileg, als Professor tätig sein zu dürfen. Das sollte man sich zwischendurch immer mal wieder bewusst machen.

Wie steht es um den wissenschaftlichen Nachwuchs im Jus?

Ich höre von vielen Kolleginnen und Kollegen, dass es nicht einfach ist, junge Juristinnen und Juristen für das Doktorat zu motivieren und zu rekrutieren. Das Doktorat hat auch in meiner subjektiven Wahrnehmung nochmals an Beliebtheit verloren, ich meine völlig zu Unrecht. Allerdings habe ich auch den Eindruck, dass oft zu breite und anspruchsvolle Dissertationsthemen gewählt werden, was dann zu riesigen Monografien und ewigen Assistenzen führt. Vielen Doktorierenden fehlt kurz nach dem Studium noch die notwendige Erfahrung, sowohl in juristischer, methodischer als auch sprachlicher und praktischer Sicht, um so ein grosses Projekt zu bewältigen. Dissertationen sollten deshalb eher thematisch enger und kürzer werden und in zwei bis drei Jahren abgeschlossen werden können. 

Und auf der Stufe der Habilitation?

Die Habilitation wirkt für viele begabte Nachwuchskräfte abschreckend. Nachdem man schon während der Dissertation, der Anwaltsprüfung und vielleicht einem LLM auf ein lukratives Erwerbseinkommen verzichtet hat, erwartet einen mit der Habilitation nochmals eine mehrjährige Durststrecke. Und das in einer Lebensphase, in der viele eine Familie gründen und an allen Fronten gefordert sind. Universitäre Funktionen wie Oberassistenz oder Assistenzprofessur, die ja eigentlich speziell für die Habilitationszeit geschaffen wurden, sind nur beschränkt hilfreich, denn Lehre ist gerade am Anfang der Karriere extrem fordernd und lässt wenig Raum für umfangreiche Forschungsprojekte wie die Habilitation. Zudem sollte man nebenbei auch noch Aufsätze publizieren, Vorträge halten und in der Selbstverwaltung mitwirken, um an Ausstrahlung zu gewinnen. Hinzu kommt die grosse Ungewissheit, ob es mit der Berufung auf ein Ordinariat klappen wird. Gleichwohl ist es toll zu sehen, dass wir in Luzern eine super Crew an hoch motivierten Habilitanden haben. 

Das Studium hat mir riesige Möglichkeiten eröffnet, von denen ich kaum zu träumen gewagt hatte.

Wie könnte man die wissenschaftliche Laufbahn attraktiver ausgestalten?

Ich habe grosse Sympathien für das englische System. Man erhält schon in sehr jungen Jahren eine unbefristete Anstellung als Lecturer und kann sich dann mit herausragender Forschungsarbeit bis zur Professur hocharbeiten. Karrieresprünge sind auch durch Wechsel der Universität möglich. So hat man immer eine langfristige Perspektive, während bei uns die Berufung über Sein oder Nichtsein entscheidet. Ich frage mich auch, ob die historisch gewachsenen Lehrstuhl- und Mittelbaustrukturen noch zeitgemäss sind. Meine Assistierenden sind eine sehr grosse Unterstützung im Prüfungswesen, aber in Lehre und Forschung delegiere ich nur wenige Aufgaben. Vorlesungen und Vorträge bereite ich selbst vor und auch die meisten Recherchen mache ich selbst. Vielleicht wäre es zielführender, den Mittelbau lehrstuhlübergreifend zu rekrutieren und zu fördern? Das würde allerdings einen Kulturwandel in der Professorenschaft zu mehr Teamarbeit voraussetzen, wovon im Übrigen auch Forschung und Lehre stark profitieren würden.

Sind Professorinnen und Professoren keine Teamplayer?  

Wie überall gibt es auch in der Wissenschaft ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, aber es ist auch eine Frage der Anreize. In der Wirtschaft verfolgt eine Gemeinschaft im Kern das gemeinsame Ziel, Geld zu verdienen und mehr Wohlstand zu erlangen. Geldwerte Erträge lassen sich entsprechend den individuellen Leistungen und Risiken mehr oder weniger gerecht aufteilen. Wenn man zu fünft mehr Geld verdienen kann als allein, dann ist man eher bereit, sich im Team zu arrangieren. Gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften haben neue Erkenntnisse zwar grossen gesellschaftlichen, aber kaum monetären Wert. Der Gegenwert für herausragende akademische Leistungen ist letztlich Anerkennung, nicht mehr und nicht weniger. Immaterielle Anerkennung lässt sich nicht gleich gut teilen wie materielle Werte. Darum besteht in der Wissenschaft wohl eher Zurückhaltung, wenn es darum geht, neue Gedanken und Ideen im Team zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Eine bahnbrechende neue Idee wird vielfach mit einer Einzelperson in Verbindung gebracht, auch wenn mehrere Personen zur Entstehung beigetragen haben. Es braucht in der Wissenschaft deshalb eine besonders grosse Vertrauensbasis, damit Teamarbeit entstehen kann.

Wie hat die Digitalisierung die Ausbildung an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Luzern verändert?

Wir haben nach der Coronapandemie als Fakultät beschlossen, in Luzern die Bachelorvorlesungen weiterhin aufzuzeichnen und den Studierenden als Podcast zur Verfügung zu stellen. Das wird aus verschiedenen Gründen sehr geschätzt. Es ermöglicht Flexibilität, um Betreuungspflichten, Erwerbstätigkeiten, Militär oder Spitzensport mit dem Studium zu vereinbaren. Fremdsprachige Studierende stehen weniger unter Druck, in der Vorlesung etwas zu verpassen. Bei Krankheit ist man nicht auf die Notizen einer Kommilitonin angewiesen. Zur Vorbereitung der Prüfung können Ausschnitte nochmals nachgeschaut werden. Die Vorteile liegen auf der Hand. 

Gibt es auch Nachteile?

Luzern ist eine persönliche Universität, die grossen Wert auf die Präsenz der Studierenden und den Austausch mit der Professorenschaft legt. Deshalb kommunizieren wir klar, dass die Podcasts nicht als Einladung für ein Fernstudium zu verstehen sind. Im Bachelor stellen wir auch fest, dass die grosse Mehrheit die Vorlesungen weiterhin vor Ort besucht und die Podcasts als Ergänzung nutzt. Der grosse Exodus ist jedenfalls nicht eingetreten. Wenn nun eine kleine Minderheit von Studierenden versucht, das Studium aus der Ferne zu absolvieren, soll dann das Angebot eingestellt werden, auch wenn die grosse Mehrheit vernünftig damit umgeht? Ich setze da auf die Eigenverantwortung. Übungen und Seminare sind übrigens von den Aufzeichnungen explizit ausgenommen und müssen vor Ort besucht werden, weil wir dort besonders Wert auf Interaktion legen.

Und im Masterstudium?

Auf Masterstufe überlassen wir den Entscheid den Dozierenden, ob sie die Vorlesung aufzeichnen möchten oder nicht. Meine Erfahrungen sind da weniger positiv. Es ist nicht selten, dass von gut 30 eingeschriebenen Studierenden nur fünf bis zehn im Hörsaal erscheinen. Das liegt wohl in erster Linie daran, dass viele Masterstudierende bereits einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Dennoch kann das nicht die Lösung sein. Hier müssen wir nach anderen didaktischen Konzepten suchen, die vielleicht aus einer Mischung von digitalen Lerninhalten und interaktiven Präsenzeinheiten bestehen. Ich mache mir dazu jedenfalls viele Gedanken. 

Zum Schluss eine Einschätzung der Zukunft: Wie wird KI die Arbeit der Juristinnen und Juristen verändern?

All jene Arbeiten, die heute schon durch die Weiterverwertung von Vorlagen und Textbausteinen geprägt sind, wird wohl eine KI übernehmen. Zudem kann ich mir vorstellen, dass mit der KI nochmals ein Quantensprung in der Recherche bevorsteht, wie vor 30 Jahren beim Übergang von Bibliotheken zu digitalen Datenbanken. GPT kann das noch nicht, weil die meisten relevanten Quellen hinter einer Paywall stehen. Aber ich bin sehr gespannt, was passieren wird, wenn juristische Datenbanken mit KI verknüpft werden. Den komplexen Prozess der Rechtsanwendung, der sich zusammensetzt aus Würdigung des Sachverhalts, Erkennen der rechtlichen Fragestellungen, Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, Berücksichtigung von Präjudizien, Ausübung von rechtlichem Ermessen und Subsumtion, wird die KI wohl noch nicht so schnell beherrschen.

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06.04.2024
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