
Caroline Perriard
Director Data Protection, BRP Group, Genf

Clarissa David
Rechtsanwältin btc legal, Lugano

Sarah Müller
Rechtsanwältin, Gerichtsschreiberin Kantonsgericht Waadt
Juristinnen begegnen zahlreichen Herausforderungen. Jeder Karriereschritt verkleinert den Frauenanteil: Sind 60 Prozent der Bachelor-Absolvent:innen weiblich, sind es bei den Anwält:innen weniger als 50 Prozent, bei den Partner:innen sind es 10 Prozent. Woran liegt das?
Caroline Perriard (CPE): Der Rechtsberuf ist umfangreich, viele Anwältinnen wählen einen anderen beruflichen Weg, anstatt Partnerin zu werden. Flexibilität, die Anerkennung unterschiedlicher Fähigkeiten sind von entscheidender Bedeutung, doch es mangelt an beidem in der Anwaltsausbildung. Folglich entscheiden sich Frauen für eine andere Berufsausübung.
Clarissa David (CDA): Der Beruf der Rechtsanwältin, ob er nun als Angestellte oder als Partnerin in einer Anwaltskanzlei ausgeübt wird, ist sehr umfassend und fordert viel Einsatz und Leidenschaft. Deshalb ist die Zahl der Frauen, die sich auf Kosten ihrer Familie für diesen Beruf entscheiden, geringer. Private (in Kanzleien) als auch staatliche Massnahmen können Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern.
Sarah Müller (SMÜ): Gerade mal 100 Jahre ist es her, als Schweizer Frauen Zugang zum Anwaltsberuf erhielten. Dora Roeder gewann 1923 vor Bundesgericht gegen den Kanton Freiburg und schloss damit an die Fortschritte von Emilie Kempin-Spyri an. Die Dinge entwickeln sich in unserem Land nur langsam. In einigen Jahren muss neu Bilanz gezogen werden.
Werden Dominanz und Aggression bei männlichen Anwälten als positive Attribute gewertet, gelten sie bei weiblichen Führungskräften als unsympathisch. Mit welchen Auswirkungen?
CPE: Dominanz und Aggression sollten nicht zu den Merkmalen von Männern und Frauen gehören. Heute erkennen sich Männer nicht mehr so. Aber Unterschiede z. B. bei Einfühlungsvermögen und Kompromissbereitschaft führen dazu, dass bei Frauen die Entscheidungsfreudigkeit kaum positiv hervorgehoben wird.
CDA: Die Vorstellung vom aggressiven, dominanten Anwalt ist überholt. Der Schwerpunkt soll unter anderem auf der Fähigkeit liegen, den vom Mandanten vorgelegten Fall gründlich zu analysieren. Und genau auf diese juristische Kompetenz und Professionalität sollten sich Frauen konzentrieren, nicht auf Charaktereigenschaften, die in Verfahren irrelevant sind.
SMÜ: Die erwähnten Eigenschaften werden von der jüngeren Generation kaum beachtet. Eine Anwältin sollte für mich eine Inspiration für Konfliktlösungen und konstruktives Vorgehen sein. Alles andere ist in bereits komplexen, sensiblen Situationen störend.
Gläserne Decken, gläserne Klippen: Studien ergaben, dass Frauen in Krisenzeiten eher Führungspositionen einnehmen, gerade dadurch aber das Risiko des Scheiterns auf sich nehmen. Wie ist das gemeint?
CPE: Anstatt dies negativ zu sehen, sollten wir es als eine Qualität betrachten.
CDA: In diesem Fall wird der Sieg einer Frau in dieser Position noch fundierter und konkreter sein. Wir können dies positiv bewerten.
SMÜ: Gläserne Klippen sind eine Realität. Dennoch meine ich, es sei richtig, wenn Frauen diese hochriskanten Positionen anstreben, zu denen sie unter anderen Umständen vielleicht keinen Zugang gefunden hätten.
Juristische Dienstleistungen für Unternehmen werden immer mehr globalisiert. Welche Auswirkungen hat dies auf die Karrieremöglichkeiten von Juristinnen?
CPE: Auch der Rechtsberuf verändert sich infolge Digitalisierung und Globalisierung. Ich glaube aber nicht, dass sich dadurch die Chancen von Juristinnen verändern. Anpassung beim Erlernen neuer Werkzeuge, Kommunikations- und Vergütungscodes sind gefordert.
CDA: Globalisierung und Unternehmensstrukturen des heutigen Marktes machen Rechtsfälle und die Anwaltstätigkeit komplexer. Dies hat jedoch keinen direkten Einfluss auf die Karrieremöglichkeiten von Frauen. Aber Flexibilisierung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie sollen unterstützt werden.
SMÜ: Die Globalisierung erhöht die Wettbewerbsfähigkeit, was tendenziell dazu führt, dass Fähigkeiten wichtiger sind als das Geschlecht.
Ungleichheiten, denen Juristinnen ausgesetzt sind, spiegeln sich in ihren privaten Lebensläufen wider: Sie sind häufiger alleinstehend und haben weniger Kinder als ihre männlichen Kollegen. Wo sehen Sie hier Lösungsansätze?
CPE: In der heutigen Gesellschaft werden immer noch Männer mehr im Beruf gefördert, während Frauen sich um die Kinder kümmern. Die effektive Anwendung des Rechts durch Gesetzgeber und Gerichte kann aber die Mentalität der Menschen beeinflussen und andere Lebensmodelle aufzeigen.
CDA: Neben verschiedenen Massnahmen, die parallel im privaten und öffentlichen Sektor zum Zug kommen, ist die Bildung der jungen Männer zentral als künftige Lebenspartner. Denn Karrieremöglichkeiten werden durch Familieneinheit und Aufgabenteilung im Haushalt beeinflusst.
SMÜ: Frauen und Männer entscheiden sich oft sogar gewollt und selbstbewusst dafür, ihre beruflichen Pläne in den Vordergrund zu stellen. Persönlich bin ich von Jurist:innen mit unterschiedlichen Lebensläufen umgeben: Frauen mit Führungspositionen und mehreren Kindern oder kinderlose Männer mit Teilzeitjob.
Untersuchungen zeigen, dass Juristinnen kurz- oder mittelfristig einen Berufswechsel in Betracht ziehen, obwohl erst am Anfang ihrer Karriere. Wie bleiben Juristinnen ihrem Beruf treu?
CPE: Dies ist nicht negativ zu bewerten, da die Berufswelt breit ist. Vielmehr sollte man die Gründe verstehen, die Frauen dazu bringen, die Rechtswelt zu verlassen (Diskriminierung, Lohnungleichheit). Wenn diese Gründe mit Ungleichheiten zusammenhängen, dann muss man das adressieren!
CDA: Der Druck der Jobs kollidiert mit dem Einfühlungsvermögen und der Selbstkritik der Frauen. Sie wechseln den Job, um Ängste und Stress abzubauen. Den Unterschied kann in erster Linie der Arbeitgeber ausmachen, indem er seine Mitarbeitenden sowohl moralisch als auch praktisch motiviert (wirtschaftliche Anreize, Flexibilität, Vereinbarkeit von Beruf und Familie).
SMÜ: Viele sehnen sich nach Vielfalt in ihrer Laufbahn. Junge Juristinnen wünschen sich ein ausgeglichenes Privat- und Berufsleben. Das Bild des Anwalts, der seine Arbeitsstunden nicht zählt, passt hier kaum mehr.
Nachhaltigkeit ist wichtig. Können Gesetze nachhaltig angewendet werden, im Hinblick auf mehr Chancengleichheit?
CPE: Mit Gesetzen kann man dafür sorgen, dass Gleichberechtigung eingehalten wird. Das Gleichstellungsgesetz sollte bekannter sein.
CDA: Es geht um wirksame und effiziente Umsetzung der Grundrechte, wie die Gleichbehandlung von Männern und Frauen, in wirtschaftlicher Hinsicht und de facto.
SMÜ: Davon bin ich überzeugt. Für Gleichstellung zu kämpfen, ist wichtig. Die Rechnung, einen Teil der Gesellschaft zugunsten eines anderen aussen vor zu lassen, geht nicht auf.
Wenn Frauen Gleichberechtigung einklagen, benötigen sie unendlich viel Kraft und Ressourcen. Lohnt sich dieser Aufwand?
CPE: Die Einleitung eines Beschwerde- oder Gerichtsverfahrens erfordert viel Energie und finanzielle Ressourcen. Wir unterstützen Projekte, die rechtliche Begleitung bieten.
CDA: Wichtig ist die Schaffung von mehr Rechtsprechung in Geschlechterfragen. Moralische und praktische Unterstützung in den Verfahren sind entscheidend, um Klägerinnen zu entlasten.
SMÜ: Es zahlt sich immer aus, für seine Rechte einzustehen, auch wenn es schwierig ist. Wohlerworbene Rechte sollen erhalten bleiben. Was wir heute erreichen, betrifft die Generation von morgen!
Algorithmen beziehen Frauen teilweise nicht mit ein, Produkte werden hergestellt, auf der Grundlage vorab männlich geprägter Daten. Wie nimmt Ihr Verband Einfluss?
CPE: Diskriminierung bei Anwendungen künstlicher Intelligenz soll verhindert werden. Wir haben einen Brief an den Europarat mitunterzeichnet bezüglich KI-Konvention, um die Nutzung von KI durch Unternehmen und Sicherheitsbehörden zu regeln.
CDA: Geschlechterdiskriminierung in Algorithmen und IT ist klar ein Thema und verlangt Regelung, z. B. im Arbeitsrecht.
SMÜ: Eine Gefahr für die Rechtsgleichheit besteht dann darin, wenn die für Berechnungen hinzugezogenen Grundlagen einseitig sind. Das muss adressiert werden.
Wie unterstützt Ihr Verband die Mitglieder?
CPE: Durch Austausch und Zusammenarbeit sowie Diskussion von Rechtsfragen. Zudem unterstützen Expertisen, die weibliche Sichtweisen zu fördern. Wir prüfen Gesetzesentwürfe, ob sie unseren Grundsätzen entsprechen oder versteckte Benachteiligungen enthalten.
CDA: Wir setzen uns für eine bessere Stellung der Frau in Forschung, Lehre, Ausbildung, Beruf und Gesetzgebung ein. Bei Revisionen prüfen wir die Übereinstimmung mit Art. 8 der Bundesverfassung.
SMÜ: Wir bieten ein Mentoring-Programm, wo Mentees Einblick in die Praxis erhalten und Mentorinnen ihren künftigen Kolleginnen begegnen.
Wie profitieren Sie persönlich vom Verein?
CPE: Ich merkte, wie umfangreich unser Beruf ist. Es motiviert, berufliche und freundschaftliche Beziehungen zu intelligenten, optimistischen Frauen zu pflegen. Es ist eine aktive Bewegung, die für eine gleichberechtigtere Gesellschaft einsteht.
CDA: Ich begegne Juristinnen aus verschiedensten Branchen und profitiere von Ratschlägen, die Ältere uns Jüngeren geben.
SMÜ: Ich erhalte Unterstützung von Frauen mit ähnlicher Ausbildung, aber unterschiedlichen Lebenswegen. Eine wichtige Inspirationsquelle.
Verein Law and Women
Der Verein Law and Women besteht seit 2001 mit Fokus auf die Förderung frauenspezifischer Sichtweisen in Forschung, Lehre, Ausbildung, Rechtsetzung, -vergleichung und -anwendung. Law and Women ist eine Expertinnen-Plattform mit Mentoringprogramm, wo sich Juristinnen vernetzen und über alle Branchen ihre Interessen gewahrt werden. Es werden verschiedene Möglichkeiten zum Netzwerken geboten, zudem werden Weiterbildungen und Konferenzen organisiert. Ebenso gibt der Verband Stellungnahmen zu neuen Gesetzesvorlagen ab.
Jahreskonferenz, Luzern, 1. Juni 2024
Fokusthema: Soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit sowie Gleichstellung und Recht. Die Konferenz ist öffentlich.
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