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Recht

Unterlassung der Nothilfe – was steckt dahinter?

03.06.2021
von Akvile Arlauskaite

Wann ist man in der Schweiz gesetzlich dazu verpflichtet, Nothilfe zu leisten? Ein Blick auf den Art. 128 des StGB sowie mögliche Gründe für unterlassene Hilfeleistung mit dem Psychiater und Rechtsmediziner Prof. Dr. med. Volker Dittmann im Interview mit «Fokus».

In einem vielbelaufenen, öffentlichen Park fällt ein alter Mann plötzlich hin und bewegt sich nicht mehr. Ein Szenario, das wohl niemand erfahren möchte. Doch was nun? Kurzgefasst: In einer solchen Situation ist man als Anwesende:r nicht nur moralisch, sondern auch gesetzlich dazu verpflichtet, der Person in Not Hilfe zu leisten. Unterlässt man dies, so macht man sich strafbar.

Man nehme sich den Artikel 128 des Schweizerischen Strafgesetzbuches vor, welcher sich mit dem Unterlassen von Nothilfe befasst:

Art. 128 Unterlassung der Nothilfe

Wer einem Menschen, den er verletzt hat, oder einem Menschen, der in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen nach zugemutet werden könnte,
wer andere davon abhält, Nothilfe zu leisten, oder sie dabei behindert,
wird mit Frei­heitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

Nun sollen die einzelnen Komponenten des Artikels beleuchtet werden.

Drei Wege, sich strafbar zu machen

Zunächst kristallisieren sich aus dem Artikel drei Tatbestandsvarianten heraus. Dies bedeutet, man kann auf drei verschiedenen Arten Hilfeleistung unterlassen und sich somit strafbar machen. Einerseits als Täter:in gegenüber dem Opfer, welchem man zuvor eine Verletzung zugefügt hat. Andererseits als Anwesende:r gegenüber Personen, die in Lebensgefahr schweben. Diese beiden Fälle werden als «passives Nichthelfen» verstanden und werden deshalb als «Unterlassungsdelikte» bezeichnet.

Die dritte Tatbestandsvariante ist die verbale oder tätliche Behinderung anderer an der Nothilfe. Solches «aktives Hindern» stellt ein «Begehungsdelikt» dar. In diesem Kontext macht man sich bereits durch Anstiftung oder Gehilfenschaft strafbar.

Wann helfen, wann nicht?

Eines ist für den Psychiater und Rechtsmediziner Prof. Dr. med. Volker Dittmann klar – in einer Situation, in der man unsicher ist, ob eine Hilfeleistung erforderlich ist, sollte man sicherheitshalber von einer Hilfspflicht ausgehen. «Keine Hilfe muss man leisten, wenn man sicher sein kann, dass andere bereits effektive Hilfe leisten. Wenn aber noch gar nichts veranlasst wurde, darf man nicht damit argumentieren, man hätte erwartet, dass andere Anwesende schon helfen würden», führt der Experte aus.

Doch wann gilt eine Person eigentlich als hilfsbedürftig? Natürlich wird in Notfallsituationen keine exakte medizinische Diagnose von einem Laien erwartet. Prof. Dr. med. Dittmann weist jedoch auf Situationen hin, bei denen «für jedermann erkennbar eine akute Lebensgefahr zumindest sehr wahrscheinlich ist, wie zum Beispiel Bewusstlosigkeit, Verletzung mit erheblichem Blutverlust oder akute Vergiftung mit Drogen oder Medikamenten.» In solchen Fällen muss Nothilfe geleistet werden.

Das Gleiche gilt, wenn die Person in Not nicht ansprechbar oder anderweitig stark in ihrer Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt ist. Hierbei wird gemäss Prof. Dr. med. Dittmann «vom sogenannten mutmasslichen Willen ausgegangen, der darin besteht, dass Menschen in Lebensgefahr generell Hilfe möchten. Nur wenn urteilsfähige Personen eindeutig Hilfe ablehnen, darf man nicht gegen ihren Willen handeln, beispielsweise wenn eine entsprechende Patientenverfügung vorliegt.»

Dennoch gilt es anzumerken, dass das Opfer nicht zwingend verletzt sein muss, um Hilfe zu benötigen. Es ist bereits ausreichend, wenn diesem unmittelbare Lebensgefahr droht. Hier nennt Prof. Dr. med. Dittmann den Aufenthalt in einer lebensgefährdenden Umgebung wie beispielsweise in einem brennenden Haus oder einem kalten, reissenden Fluss.

Zumutbarkeit der Hilfeleistung

Ein wichtiger Aspekt des Art. 128 StGB ist, dass die helfende Person Hilfe in Notfallsituationen leisten muss, die ihr «den Umständen nach zugemutet werden könnte.» Was bedeutet dies eigentlich?

Zumutbarkeit kann wie folgt interpretiert werden: Eine Person, die nicht Autofahren kann, sollte sich nicht hinter das Steuer setzen. Zuallererst ist eine Hilfeleistung dann zumutbar, wenn dem Helfenden durch diese keine erheblichen Nachteile drohen. Hierbei ist der konkrete Einzelfall entscheidend, betont Prof. Dr. med. Dittmann. «Die Jurist:innen prüfen, in welchem Verhältnis die allfälligen Nachteile für die zur Hilfe verpflichteten Personen zur Lebensgefahr des Opfers stehen. Generell kann man aber sagen, dass jedenfalls leichte und insbesondere materielle Nachteile wie Versäumen eines Termins, zu spät zur Arbeit kommen oder Beschmutzung der eigenen Kleidung als zumutbar erachtet werden.» Hingegen sei es laut dem Experten den Helfenden nicht zumutbar, sich einer Lebensgefahr oder einem erheblichen Verletzungsrisiko auszusetzen. Zum Beispiel, wenn sie sich auf brüchiges Eis oder in ein brennendes Haus wagen müssten, um jemanden zu retten.

Arten der Hilfeleistung

Der Gesetzestext enthält keine spezifischen Vorkehrungen, wie in Notsituationen zu helfen ist. Die Minimalpflicht bestehe laut Prof. Dr. med. Dittmann jedoch im Alarmieren der entsprechenden Rettungsdienste. Auch das Befolgen der Anweisungen der Disponent:innen der Notrufzentrale gehört hierzu. Insbesondere, wenn die helfende Person einen Nothelferkurs absolviert hat, ist ihr dies zumutbar. «Weitere Pflichten ergeben sich aus den individuellen Fähigkeiten sowie dem Kenntnisstand der Helfenden: An einen Laien ohne jede Ersthelferausbildung werden natürlich geringere Anforderungen gestellt als an einen Notarzt», so der Experte.

Rechtliche Folgen unterlassener Nothilfe

Eines steht fest: Aus einer Situation, in der eine Person in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, sollte man sich nicht tatenlos zurückziehen. Nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch aufgrund möglicher rechtlicher Folgen. Prof. Dr. med. Dittmann betont an dieser Stelle: «Sofern es Zeugen gibt und die Identität festgestellt werden kann, muss man mit einem Strafverfahren rechnen. Im Falle einer Verurteilung muss man je nach Schwere der Schuld mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren rechnen.»

Um sich in diesem Kontext strafbar zu machen, muss die beschuldigte Person grob fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt haben. Prof. Dr. med. Dittmann führt aus: «Vorsatz bedeutet, dass eine Tat ‹mit Wissen und Willen› ausgeführt wird, vereinfacht gesagt, dass die Tatbegehenden bewusst ein bestimmtes Resultat mit ihrer Handlung bezwecken. Es reicht dabei bereits aus, dass die Verwirklichung der Tat für möglich gehalten und in Kauf genommen wird. Das heisst, dass die Tatbegehenden das Risiko kennen und sich damit abfinden.»

An dieser Stelle prüfen Jurist:innen laut Prof. Dr. med. Dittmann folgende Umstände des konkreten Falles:

  • den genauen Ablauf des Vorfalls
  • den Zustand der zur Hilfe verpflichteten Person
  • ob für sie die Notsituation erkennbar war
  • die ihnen zumutbare und mögliche Hilfe – unter Berücksichtigung ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse

Subjektive Situation der Beschuldigten ist massgebend

Doch was passiert, wenn die beschuldigte Person in einer Notfallsituation vor lauter Schock nicht handeln konnte? Oder wenn sie unter dem Einfluss von Drogen stand? «Wie bei jedem Strafverfahren wird auch die subjektive Situation des Beschuldigten berücksichtigt», erklärt Prof. Dr. med. Dittmann. «Bei entsprechenden Anhaltspunkten bedarf es dazu unter Umständen auch eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens zur Frage der möglichen psychischen Beeinträchtigung zum Zeitpunkt des Vorfalls. In Betracht kommt zum Beispiel eine sogenannte akute Belastungsreaktion – in der Laiensprache als ‹Schock› bezeichnet – die so schwer sein kann, dass die Betroffenen nicht mehr in der Lage sind, das Unrecht ihrer Tat einzusehen oder ihr Verhalten nicht mehr steuern können. Gleiches kann für den Einfluss berauschender Mittel gelten, der aber ganz erheblich sein muss, um juristisch relevant zu werden», führt der Experte aus.

Die Begründung, man könne den Anblick von Blut nicht ertragen, würde Jurist:innen laut Prof. Dr. med. Dittmann hingegen kaum überzeugen. In Notfallsituationen sei man nämlich verpflichtet, gewisse Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. «Für eine Straffreiheit bei einer Unterlassung der Nothilfe müsste man konkret beweisen können, dass man in der Vergangenheit beim Anblick von Blut regelmässig in einen schweren psychischen Ausnahmezustand geraten ist», betont der Psychiater und Rechtsmediziner. «Erwartet werden darf, dass man trotz der Angst vor Blut zumindest versucht, Hilfe zu leisten. Wenn einem dabei dann schlecht wird oder man gar selbst das Bewusstsein verliert, dürfte das als Entschuldigungsgrund akzeptiert werden.»

Warum Nothilfe unterlassen wird

Immer wieder sorgen Schlagzeilen, die von unterlassener Nothilfe berichten, für Empörung. Doch warum wird in diesen Situationen oftmals nicht geholfen, obwohl dies möglich gewesen wäre?

Oftmals bestimmt die Furcht vor straf- oder zivilrechtlichen Folgen das Handeln der Unterlassenden von Hilfeleistung. Die genaueren Gründe wurden von der Zeitschrift «Apotheken Umschau» in einer Umfrage analysiert. In den meisten Fällen würden Personen aufgrund ihrer Angst, bei der Hilfeleistung etwas falsch zu machen, diese unterlassen. An dieser Stelle sollen laut Prof. Dr. med. Dittmann jedoch die rechtlichen Konsequenzen abgewogen werden. Das Risiko, wegen einer Unterlassung verurteilt zu werden, sei grösser, als wegen «falscher» Hilfe belangt zu werden. «Was möglich und notwendig war, wird dabei nicht aus nachträglicher Perspektive bewertet, sondern aus der konkreten Situation des Helfers in der Notsituation, in der man oft unter schwierigen Umständen rasch entscheiden und handeln muss. Eine Verurteilung wegen ‹falscher› Nothilfemassnahmen käme für Laienhelfer:innen auch nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit in Betracht. Ausgebildete Medizinalpersonen, zumal wenn sie auf Notfallmedizin spezialisiert sind, werden aber daran gemessen, ob sie sich an die anerkannten fachlichen Standards gehalten haben.»

Als weitere Gründe für das Unterlassen von Hilfeleistung wurden von den Befragten zudem die Unfähigkeit genannt, Erste Hilfe zu leisten sowie die Präferenz, dies den Ärzt:innen und Sanitäter:innen zu überlassen. Darüber hinaus würden einige in einer solchen Situation lieber vorerst abwarten, ob andere Anwesende zuerst helfen würden. Die Angst vor Infektionen und anderen Unannehmlichkeiten sowie das fehlende Absolvieren eines Erste-Hilfe-Kurses können ebenfalls dazu führen, dass Umstehende von der Nothilfe absehen.

Die Psychologie dahinter

Eine weitere mögliche Erklärung für unterlassene Hilfeleistung ist der «Bystander-Effekt», auch «Zuschauereffekt» genannt, der an einige obiger Punkte anknüpft. Dieser besagt, dass einzelne Augenzeug:innen in einer Notsituation weniger wahrscheinlich helfen werden, wenn weitere Zuschauende anwesend sind. Die Psychologen John M. Darley, Bibb Latané und Steve Nida sehen hierfür drei mögliche Gründe:

  • Die «Verantwortungsdiffusion» beschreibt, dass obwohl genügend zur Nothilfe qualifizierte Personen anwesend sind, alle insgeheim darauf hoffen, dass jemand anderes rechtzeitig eingreift und sie die Verantwortung somit nicht selbst tragen müssen (Latané & Darley, 1968).
  • Im Falle der «Pluralistischen Ignoranz» orientieren sich Anwesende in einer Notfallsituation am Verhalten anderer. Greift niemand ein, so gehen Augenzeug:innen davon aus, dass die Situation nicht sonderlich gravierend ist und deshalb kein Eingriff notwendig ist (Latané & Darley, 1968).
  • Die «Bewertungsangst» greift die Tatsache auf, dass die Anwesenden sich bewusst sind, dass ihr Verhalten in der jeweiligen Notsituation von anderen beobachtet werden würde und Angst haben, negativ beurteilt zu werden. Dies führt zu Stressgefühlen, was die Wahrscheinlichkeit der Nothilfeleistung umso mehr reduziert (Latané & Nida, 1981).

«Überraschenderweise sind dann aber viele der untätig Herumstehenden doch bereit, einen Beitrag zu leisten, wenn jemand die Initiative ergreift», stellt Prof. Dr. med. Volker Dittmann fest. «Ich habe das selbst bei etlichen Notsituationen erlebt, wenn ich an einen Unfallort gekommen bin, an dem zwar viele anwesend waren, sich aber niemand um das Opfer kümmerte. Sobald ich mich um den Verletzten bemühte und mit konkreten Anweisungen die Umstehenden um Mitwirkung bat, wurden bereitwillig Aufgaben übernommen», berichtet der Experte.

 

 

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