Interview von Kevin Meier

Fiorella Lores: «Drag wirft Fragen auf und bildet»

Die Schweizer Dragqueen Fiorella Lores erzählt im Interview, wie sie zu Drag kam, was es ihr bedeutet und welches ihre Lieblingsauftritte sind.

Seit 2019 ergänzt Fiorella Lores die Dragszene mit Lipsyncs, Tanzeinlagen und Popkulturreferenzen von heute und gestern. Wie die Dragqueen mit italienischen Wurzeln ihren Weg zur Kunstform fand und wie sie das alles unter eine Perücke bringt, erzählte sie «Fokus» im Interview.

Fiorella Lores, wie bist du zu Drag gekommen?

Wie so viele bin ich über RuPaul’s Drag Race auf Drag gestossen. Ich fand es spannend und war fasziniert. Irgendwann hat es mich gepackt und ich wollte selbst Drag ausprobieren. Tatsächlich war es sehr therapeutisch, weil man sich viel Zeit für sich selbst nimmt. Man muss sich mit sich selbst auseinandersetzen und sich ständig selbst betrachten. Das war ein schönes, beruhigendes Gefühl. Also wollte ich es weitermachen.

Interessant, Drag als Zeit für sich selbst zu sehen.

Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einer Person in einer Band. Sie meinte, dass sie sich kaum auf den Auftritt konzentrieren könne, da sie die ganze Technik transportieren muss. Ich muss für meine Auftritte zwar auch Kostüme, Make-up und Weiteres mitnehmen, aber bevor ich auf die Bühne gehe, sitze ich zweieinhalb Stunden da und beschäftige mich mit mir selbst. Klar, gehört das zu Drag dazu. Trotzdem nimmt man sich diese Zeit für sich.

Wer ist Fiorella Lores?

Eine schwierige Frage (lacht). Viele Dragperformer:innen würden es wie eine Art Charakter oder Bühnenfigur definieren und leben es so aus. Für mich ist Fiorella keine Figur, sondern eine Erweiterung von mir, ein Ausdruck meines tiefsten Ichs. Häufig stelle ich mich auch als Fiorella vor – nicht um mich abzugrenzen, sondern weil sie ein Teil von mir ist.

Wie definierst du Drag?

Es gibt die klassischen Bilder von Drag: Ein cis Mann macht Drag und sieht aus wie eine cis Frau. Bei RuPaul’s Drag Race wird zum Beispiel eine sehr kanonisierte Form von Drag dargestellt. Für mich ist es aber losgelöst von Geschlecht und Gender. Es spielt keine Rolle, wer Drag macht und was dabei rauskommt. Schlussendlich muss es nicht einmal eine menschliche Figur sein. Es ist eine freie Kunstform. Ich finde es schade, dass das klassische Bild breiter akzeptiert wird und gefragter ist. Es kann limitierend sein und einschränken, was Drag alles kann. Diese Art des Drags benötigt viel Geld. Ja, Drag ist allgemein kostenaufwendig, aber mit Kreativität und Willen lässt sich viel machen. Die Freiheit, aus dem Rahmen auszubrechen, muss man sich geben. Es muss nicht immer alles perfekt sein.

Wie würdest du deinen Drag beschreiben? Was inspiriert dich?

Mein Drag gibt persönliche Eindrücke wieder aus meiner Kindheit und Jugend, aber auch von heute. Mit Drag kann ich all die Dinge realisieren, die ich schon immer cool fand oder sein wollte.

Ich orientiere mich an der Ästhetik der frühen 2000er mit meinen Kleidern und der Songauswahl. Dazu hat vielleicht beigetragen, dass meine Mutter in dieser Zeit eine Scheidung durchmachte. Dadurch hatte sie eine Art Glow-up und orientierte sich sehr an der Musik und Mode der Populärkultur. Das ist mir geblieben, wie sie in einer so einschneidenden Situation neue Kraft schöpfte und Vollgas gab.

Fiorella ist vor allem auch für ihren Bart bekannt. Inwiefern ist das ein Spiel mit Gender?

Genau, ich rasiere auch meine Körperbehaarung nicht. Hauptsächlich aus dem Grund, dass ich so viel davon habe (lacht). Ein weiterer Grund ist, dass es auch weiblich präsentierende Personen mit Gesichts- und Körperbehaarung gibt. Weil ich oft in Räumen unterwegs bin, in denen das nicht erwartet wird, spiele ich mit dieser Spannung: der hyperfeminin konnotierte Ausdruck kombiniert mit der maskulin konnotierten Behaarung. Einerseits kommt das gut an, andererseits wirft es natürlich Fragen auf: Was stört? Ich merke schnell, ob sich die Leute mit mir auseinandersetzen möchten und mit mir interagieren oder ob sie lieber auf Distanz gehen. Bei Letzterem weiss ich, da bewegt sich was. Die Person hat Aversionen mir gegenüber und müsste sich einige Fragen stellen.

Wie meinst du das?

Die Ablehnung, die mein Drag manchmal hervorruft, stört mich gar nicht. Es ist eigentlich sogar etwas Gutes. Denn ich finde schon, dass Drag einen Bildungsauftrag hat, in dem Sinne, dass es Fragen auslöst und so die Selbstbildung anregt. Sobald etwas da ist, das stört, muss man auch selbst an sich arbeiten. Drag ist nicht nur da, um zu gefallen.

Wie erlebst du die Genderdiskussion?

Die Bezeichnung «Genderdiskussion» ist schon interessant. Für mich ist es nämlich keine Diskussion. Es gibt mehr als nur Mann und Frau, das ist ein Fakt (zeigt auf sich selbst). Trotzdem ist diese «Diskussion» allgegenwärtig und Drag trägt auch dazu bei. Deshalb ist es so spannend, mit Gender zu spielen und den Menschen zu zeigen: So sehe ich aus – das ist natürlich, nicht fake.

Trennst du Privatleben und Drag?

Ich kann nicht tagtäglich in Drag rumlaufen. Das wäre zu anstrengend und zeitaufwendig. Zudem kommt es immer auf das Umfeld und den Raum an. Zu Hause im Wohnzimmer habe ich nicht den gleichen Ausdruck wie auf der Bühne im Club. Aber egal ob mit Drag oder nicht, man kann sich mit mir genau gleich hinsetzen und dieselben Gespräche führen.

Die Grenze verschwimmt und das macht beide Sphären angenehmer. Wenn ich den Alltag ins Drag trage, holt mich das herunter und dämpft das Dramatische. Ein bisschen Drag im Alltag, pusht mich und lässt alles weniger anstrengend wirken. Je unschärfer die Grenze wird, desto einfacher ist es für mich. Ich versuche gar nicht erst, einen klaren Unterschied zu machen. Die Trennung ist eher bedingt durch den Aufwand für Drag. Wenn ich könnte, würde ich es sehr gerne mehr ausleben. Doch eine gute Work-Life-Balance mit Studium zu erreichen ist schwierig mit Drag obendrauf (lacht).

Stichwort Work-Life-Balance: Wie bringst du Job, Privatleben, Studium und Drag unter einen Hut?

Ich mach einfach. Ich probiere aus, bis es nicht mehr funktioniert und ich etwas ändern muss. Es kann an jeder Ecke des Privatlebens, des Jobs oder Studiums nicht mehr ganz stimmen und dort muss man ansetzen. Gewisse Dinge kann man nicht ändern. Anderes kann man nur tun, wenn man an woanders ansetzt. Ich evaluiere konstant. Es hat auch mit Planung, Disziplin und vor allem Verständnis für sich selbst zu tun. Wenn etwas wirklich nicht klappt, geht es eben nicht.

Wie hast du deinen Weg im Leben gefunden und wie gehst du mit Rückschlägen um?

Ich nehme es nicht, oder noch nicht, so wahr, dass ich meinen Weg schon gefunden habe (lacht). Wenn mir etwas gefällt und ich es machen will, finde ich einen Weg, auch wenn es Rückschläge gibt. Ich gebe den Dingen immer etwas Zeit. Ich will mir sicher sein, dass ich es wirklich versucht habe. Wenn ich etwas aufgebe, dann nur wenn ich mit fester Überzeugung sagen kann, dass es nicht das Richtige für mich ist.

Ich muss aber dazu sagen, dass ich in dieser Hinsicht privilegierter bin als andere. Ich bin hier aufgewachsen. Ich verfüge über ein grosses Netz an Freundschaften und Familie, das mich unterstützt, egal wofür ich mich entscheide. Ein grosser Teil meines Netzwerks besteht schon jahrelang aus denselben Menschen. Das hilft sehr, mit Rückschlägen umzugehen und den eigenen Weg zu finden. Das ist nicht selbstverständlich.

Wie nimmst du die LGBTQIA+-Community in der Schweiz wahr?

Den Anschluss habe ich erst mit Drag gefunden. Ursprünglich musste ich nicht darauf zurückgreifen, um ich selbst sein zu können. Aber zu wissen, dass es die Community gibt, ist cool. Ich nehme sie als sehr offen wahr. Es gibt Angebote für verschiedene Altersgruppen; für Jugendliche ist vor allem die Milchjugend sehr aktiv.

Darüber hinaus ist die Community nicht allzu gross. Man kennt sich, es ist immer ein Safe Space. Für mich ist es eine coole Erfahrung, die unterschiedlichsten Menschen kennenzulernen.

Hast du aufgrund deiner Sexualität, deines Genders oder Drags jemals Hass erfahren?

Sexualität und Gender sind in der Kindheit und der Jugend die Klassiker, leider. Ich beobachte, wie es in letzter Zeit wieder zunimmt, je nachdem wo man sich in Zürich aufhält. Am Abend sind Niederdorf, Europaallee und Langstrasse für mich No-Gos, auch ohne Drag. Ich kann problemlos durch Hintergassen in dem Wissen, das mir wahrscheinlich nichts passieren wird, da ich gross bin und mich männlich präsentiere. Andere Menschen haben dieses Privileg nicht.

Wie gehst du damit um?

In dem Moment blende ich es aus. Zuvor habe ich mich nicht damit auseinandergesetzt. Nun traue ich mich, mich selbst zu fragen, was die Erfahrung mit mir gemacht hat. Was brauche ich jetzt und was muss ich jetzt tun? Brauche ich jemanden, um zu reden? Kann ich weiter machen oder muss ich nach Hause? So gebe ich dem Angriff selbst wenig Raum, aber mir selbst mehr. Das kam aber erst mit Mitte 20.

In Drag erlebe ich es weniger. Aber nur, weil ich vorsichtig bin, weil andere schlimme Erfahrungen gemacht haben. Ich schminke mich wenn möglich vor Ort oder nehme ein Uber bis vor die Location. Auf dem Nachhauseweg dasselbe: vor Ort abschminken oder Uber. Mit dem ÖV oder zu Fuss bewege ich mich nicht in Drag. Wenn dann nur zu zweit. Persönlich ist mir noch nichts passiert, aber es ist ein sehr seltsames Gefühl. In Drag passt man einfach nicht in den Kontext der Strasse und zieht die Aufmerksamkeit auf sich. In gewisser Hinsicht ist dies auch das Ziel von Drag, aber eben nicht in dem Raum.

Ich habe es aber eigentlich gut. Ich kann mich abschminken und alles ist in Ordnung. Doch was machen femininere Menschen als ich? Was machen trans Menschen?

Zurück zu Drag: Hast du einen Lieblingsauftritt?

Nicht per se eine Lieblingsshow. Es kommt immer auf den Kontext und das Publikum an. Dieselbe Nummer kommt in einem Club ganz anders an als in einem Theater. Das musste ich auch lernen (lacht).

Wenn ich etwas nennen müsste, würde ich zwei wählen. Die Auftritte am lila. queer festival sind immer Wahnsinn. Das Festival ist ein cooler Ort und man erhält grenzenlose kreative Freiheit.

Als zweites würde ich den Superball in Amsterdam sagen. Das ist eine jährliche internationale Drag Competition, in der man als Gruppe auftritt. Im Juni 2023 habe ich mit dem Dragkollektiv «Garden of Dreams» zusammen mit Kinnari und Rose Bucket teilgenommen. Dort zu performen war cool – und wir haben in der Kategorie «Dance-off» gewonnen! Da würde ich auf jeden Fall nochmals teilnehmen.

Gibt es auch Nummern, die du nicht mehr machen würdest?

Sehr viele (lacht). Nicht, weil ich mit ihnen nicht zufrieden war. Damals hat alles gepasst, aber mir wird schnell langweilig. Manchmal hab ich mich schon nach einem Monat so weiterentwickelt, dass der Auftritt nicht mehr zu mir passt. Wenn mich eine Nummer langweilt, kann ich sie auch nicht überzeugend rüberbringen.

Du hast das Dragkollektiv «Garden of Dreams» mit Rose Bucket und Kinnari angesprochen. Wie kam es dazu und was ist euer Manifest?

Kinnari hat wie ich um 2019 mit Drag begonnen und ich kannte sie daher zuvor schon. Erst 2022 habe ich beide besser kennengelernt. An einem Kweer Ball traten Kinnari und ich gegeneinander in einem Lipsync Battle an und hatten danach einen super Abend zusammen. Am nächsten Morgen trafen wir drei uns am Brunch für alle Involvierten des Kweer Balls. So haben die zwei Freundschaften zusammengefunden.

Das Dragkollektiv Garden of Dreams mit Fiorella Lores, Rose Bucket, Kinnari.

Das Dragkollektiv «Garden of Dreams» mit Fiorella Lores, Rose Bucket und Kinnari (v.l.n.r.). Bild: glossygritty photography

Rose Bucket hat bereits mit dem Drag House «Chalet of Yokai» am Superball 2019 teilgenommen und fragte Kinnari und mich, ob wir drei 2023 hinfahren wollen. Um teilzunehmen, muss man eine Gruppe gründen. Wir fanden aber, dass unsere Strukturen per Definition kein House sind. Und weil alle unsere Namen etwas mit Blumen zu tun hatten – Kinnari hiess damals noch Kira Lafleur – haben wir das Kollektiv «Garden of Dreams» gegründet.

So etwas wie ein Manifest haben wir aber nicht. Wir sind einfach «good Friends» (lacht). Unser Drag, Ausdruck und Charakter sind sehr unterschiedlich, aber gerade deswegen können wir viel voneinander lernen. Sich auszutauschen und zusammen zu kreieren, ist unglaublich wertvoll.

Hast du einen Traum, den du unbedingt verwirklichen möchtest?

Mehr Drag, egal in welcher Form oder welchem Format (lacht). Das ist das Hauptziel, vielleicht sogar so, dass ich irgendwie davon leben kann.

Wenn du deinem jüngeren Ich einen Rat fürs Leben geben könntest, was wäre das?

Tu es einfach und vertraue dir selbst. Du kannst dich auf dich verlassen. Und du schaffst alles.

Als Kind konnte ich mir all das nicht vorstellen. Drag mache ich nicht nur für mich, sondern auch für mein dreijähriges Ich. Das ist einfach cool.

Mehr von Fiorella Lores:

Instagram: @fiorella.lores

TikTok: @fiorella.lores

Headerbild Pit Reding


Lust auf mehr Drag? Lies auch die Interviews mit Amélie Putain (Teil 1 & Teil 2) und die Gespräche mit «Queen of the Scene» Milky Diamond und «Gen Z Tornado» Ares!

Eine Antwort zu “Fiorella Lores: «Drag wirft Fragen auf und bildet»”

  1. Sara sagt:

    Tolles Interview! Ich finde es beeindruckend, wie Fiorella Drag als Möglichkeit nutzt, Identität, Kreativität und gesellschaftliche Fragen miteinander zu verbinden und dabei inspiriert und reflektiert.

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18.11.2024
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