
Hasib Jaenike, Präsident der Mutabor Märchenstiftung
Draussen liegt Schnee, das Feuer im Kamin prasselt, alle sind in warme Decken gehüllt und jemand erzählt ein Märchen. Ist das nicht ein schönes Bild? Das Erzählen gehört zu den ältesten Traditionen der Menschheit. Beim Zuhören taucht man in eine andere Welt ein, in die Welt der Fantasie, wo Frau Holle es schneien lässt, die Heldinnen und Helden ihre Abenteuer bestehen und am Ende auch diejenigen das Glück finden, mit denen es das Leben nicht so gut gemeint hat. In diesem Sinne spenden die alten, überlieferten Märchen Trost und machen Mut.
Doch fast wären die Märchen vergessen gegangen, denn im Zuge der Industrialisierung verschwanden die Spinnstuben und andere Gelegenheiten, bei denen man sich traf. Später kam das Fernsehen, heute sind es Streamingdienste, deren Geschichten man die Aufmerksamkeit und Zeit schenkt. Doch in der Adventszeit und an Weihnachten ist nichts schöner, als gemeinsam wunderbaren Märchen zu lauschen. Es gibt weit mehr als die bekannten und mehrfach verfilmten Märchen der Brüder Grimm und der tschechischen Geschichte von Aschenbrödel und den drei Haselnüssen. Es gibt Märchen aus aller Welt, aus dem fernen Sibirien genauso wie aus Neuseeland. Wer die Winterszeit mag, möchte vielleicht etwas von den Trollen lesen, die an Weihnachten in Norwegen auftauchen oder von der Feldmaus und der Stadtmaus, die sich gegenseitig zum Weihnachtsschmaus einladen. Auch die Märchen und Sagen aus der Schweiz sind eine Entdeckung wert. Etwa die luzernische Geschichte «Das Geschenk des Erdmännleins» oder das Märchen aus dem Jura «Der Zwerg am Berg», fünf Märchen aus der Schweiz fanden sogar Eingang in die «Kinder- und Hausmärchen» der Brüder Grimm, die übrigens zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören.
Immer mehr Menschen erlernen das Erzählen wieder und beschäftigen sich mit der Vielfalt der überlieferten Märchen. Hasib Jaenike
Die Erzählkultur hat sich in den letzten zwei Jahrzenten wieder belebt. Immer mehr Menschen erlernen das Erzählen wieder und beschäftigen sich mit der Vielfalt der überlieferten Märchen. Man kann sie für besondere Gelegenheiten buchen und damit einen Geburtstag, Advent oder Dreikönigstag unvergesslich machen. Oft hört man dann: «Ich wusste gar nicht, dass es so viele schöne Märchen gibt.» Was sich unsere Vorfahren erzählt haben, ist ein unerschöpflicher Schatz. Nur ein Teil davon wurde bewahrt, schriftlich notiert und in Büchern festgehalten. Über siebentausend verschiedene Märchen-Buchtitel sind erfasst. Wenn man bedenkt, dass in manchem Buch nur zehn Märchen, in anderen aber tausendundeine Geschichte enthalten sind, so ergibt das eine sehr hohe Zahl. Anders als man meinen könnte, sind die meisten Märchen für Erwachsene erzählt worden. Sie berichten von Dingen, die wir bis heute kennen und die schon unsere Vorfahren beschäftigt haben. Wie findet man das Glück, wie überwindet man schwierige Zeiten, und was tut man, wenn man drei Wünsche frei hat? Beispielhaft erzählen die Märchen von Chancen, Freundschaft oder Feindschaft, und davon, dass es sich auch im dunkelsten Winter lohnt, an eine Tür zu klopfen und um ein Dach über dem Kopf zu bitten. Das erinnert an die Weihnachtsgeschichte, eine Erzählung über Nächstenliebe und Hoffnung.
Auf eine gewisse Art haben die Märchen diesen Hoffnungsstern bewahrt. Sie überwinden Zeiten, Generationen und Ländergrenzen, und sie vermögen zu besonderen Zeiten ihren Zauber zu entfalten. Die Advents- und Weihnachtszeit eignet sich dafür gut. Die Kerzen brennen, alle sind beisammen und freuen sich über eine schöne Geschichte. Vielleicht jene von dem Jungen, der im Winter im Wald eine Schatzkiste und einen goldenen Schlüssel findet. Langsam öffnet er die Kiste und darin sind …
Text Hasib Jaenike, Präsident der Mutabor Märchenstiftung
www.maerchen.ch
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