Dass Recht und Demokratie eng verbunden sind, ist eine Binsenweisheit. Gleichwohl scheint dieses für den Staat so wichtige Verhältnis in jüngerer Zeit beschädigt worden zu sein. Dass sich Demokratie nur innerhalb klarer rechtlicher Schranken entwickeln kann, scheint gelegentlich ebenso vergessen zu gehen wie der Umstand, dass die Demokratie dem Recht und seiner Gestaltung die massgeblichen Vorgaben macht.
Demokratie braucht Recht
Ganz aktuell steht uns die Bedeutung des rechtlichen und formalen Rahmens von Demokratie vor Augen: Wenn es mit der korrekten Auszählung von Wählerstimmen nicht klappt, wie jüngst in der Stadt St. Gallen, oder wenn es beim Sammeln von Unterschriften für Initiativen oder Referenden zu Unregelmässigkeiten kommt, dann beschädigen diese Regelverletzungen das Vertrauen in die Demokratie. Ohne klare und sichere Regeln vertraut niemand mehr den Ergebnissen der demokratischen Mehrheitsfindung.
Mindestens so wichtig ist es aber, dass sich in einer Demokratie alle wichtigen Stimmen Gehör verschaffen können. Gerade auch die kritischen oder unbequemen Bürgerinnen und Bürger brauchen und verdienen Schutz, denn sie sind es vielleicht, die frühzeitig Missstände benennen und Verbesserungen anregen. Es ist darum von entscheidender Bedeutung, dass eine Vielzahl von Medien für alle Meinungen zur Verfügung steht – und dass niemand daran gehindert wird, seine Ideen zu verbreiten. Mir scheint allerdings, dass die Toleranz gegenüber politisch oder ideologisch anders Denkenden in jüngerer Zeit geschwunden ist. Die Pandemie hat hier sicher beschleunigend gewirkt. Hier nun spielt die Rechtsordnung eine entscheidende Rolle: Denn nur sie, und nicht irgendwelche ideologische Vorlieben einer Mehrheit, dürfen die Schranke der Meinungsäusserungsfreiheit bilden. Grundrechte und politische Rechten standen seit jeher vor allem im Dienst von Minderheiten, nicht in jenem der Mehrheit.
Recht braucht Demokratie
Gerade in der Schweiz, in der zumindest gefühlt über fast alles abgestimmt werden kann, muss man eigentlich niemandem erklären, dass Recht nur akzeptiert wird und sich langfristig durchsetzen kann, wenn es von einem demokratischen Willen getragen wird. Dementsprechend hoch schätzen wir es denn auch jeweils an Abstimmungssonntagen ein, wenn der Souverän, also das Volk und die Stände, einen Entscheid getroffen hat.
Nun scheint sich aber in den letzten Jahren dieser hohe Respekt vor dem Willen des Volkes durch die Hintertür zu verabschieden. Sowohl eher von «rechts» getragene Anliegen wie die Ausschaffungs- oder die Masseneinwanderungsinitiative wie auch politisch eher von «links» unterstützte Begehren wie die Alpeninitiative, die Zweitwohnungsinitiative oder, als jüngstes Beispiel, die klar angenommene Initiative «Jugend ohne Tabak», sind trotz der Zustimmung durch den Souverän nicht oder nur unzureichend umgesetzt worden. Tagespolitisch mag es dafür je gute Gründe geben. Die Wirkung mangelhafter Umsetzungen von Initiativen ist jedoch fatal: Wenn man nicht mehr darauf vertrauen kann, dass ein Abstimmungsergebnis tatsächlich umgesetzt wird, dann schwindet das Vertrauen in das Funktionieren der Demokratie insgesamt. Volksinitiativen werden denn auch immer pointierter formuliert und auch häufiger angenommen – vielleicht weil die Bevölkerung den Eindruck hat, dass es überdeutliche Signale braucht, damit das Parlament oder die Regierung sich wenigstens ein bisschen in die gewünschte Richtung bewegen.
Wenn in der Schweiz ein Verfassungsauftrag nicht oder nicht vollständig umgesetzt wird, gibt es keine verfassungsmässige Instanz, die auf die Durchsetzung des Auftrags hinwirken kann. Insbesondere verzichtet die Schweiz nach wie vor auf den Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit. Vielmehr liegt die Umsetzung von Volksinitiativen auf Bundesebene in den Händen des Bundesrates und vor allem auch der Bundesversammlung. Wenn diese jedoch regelmässig und sichtbar Volksinitiativen unzureichend umsetzt, gerät das in über 175 Jahren fein austarierte demokratische System der Schweiz in eine gefährliche Schieflage.
Recht und Demokratie leben von Vertrauen
In jüngerer Zeit war immer wieder zu lesen, dass die Organe der Justiz und der Strafverfolgung an ihre Kapazitätsgrenzen gelangen. Es ist nicht auszuschliessen, dass Straftaten erst zu spät oder gar nicht verfolgt werden und die Justiz den Bürgerinnen und Bürgern nicht zeitnah den nötigen Rechtsschutz bietet. Wenn aber die Durchsetzung des demokratisch beschlossenen Rechts nicht funktioniert, dann wird das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Staat und Recht unterhöhlt. Im besten Fall führt dies zu blosser Staatsverdrossenheit, im schlimmeren Fall zur Ablehnung staatlicher Regelungen, im schlimmsten Fall zum Widerstand gegen diese. Sogenannte Staatsverweigerer, die sich nicht an staatliche Regeln gebunden sehen und den Behörden enormen Aufwand verursachen, sind vielleicht ein Zeichen einer solchen Entwicklung.
Wer also nicht darauf vertrauen kann, dass der demokratische Prozess korrekt verläuft, wird sich an diesem nicht mehr beteiligen wollen. Zugleich verlieren die Resultate dieses Prozesses auch an Überzeugungskraft und Wirkung, wenn sie sichtbar nicht umgesetzt werden. Mangelndes Vertrauen in den demokratischen Prozess und mangelndes Vertrauen in eine funktionierende Umsetzung und Durchsetzung des Rechts machen einen Staat schwer lenkbar und lassen rechtliche Vorgaben leerlaufen.
Demokratisch gesetztes Recht als Existenzgrundlage
Von den Steuern über die Sozialversicherungen bis zum Vertrags- und Familienrecht: Kein rechtlich geordneter Lebensbereich kann ohne die grundsätzliche Akzeptanz der Bevölkerung sinnvoll gesteuert und geordnet werden. Es braucht vielmehr das Vertrauen aller, dass demokratische Entscheide korrekt zustande kommen und das demokratische Entschiedene von allen Behörden respektiert und tatsächlich umgesetzt wird. Es ist also mehr als juristische Folklore, das Rechtsstaatsprinzip hochzuhalten. Es ist nicht weniger als die Existenzgrundlage des demokratischen Staates.
Trotz aller anderen Probleme und Krisen, die uns beschäftigen, darf nie vergessen gehen, dass sich diese alle nur bewältigen lassen, wenn die Rechtsordnung funktioniert. Das Recht und seine demokratischen Entstehungsprozesse verdienen deshalb deutlich mehr Aufmerksamkeit und Sorgfalt, als wir ihnen gegenwärtig angedeihen lassen.
Text Prof. Dr. iur. Thomas Gächter, Inhaber des Lehrstuhls für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich und Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich
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